Das Zerren an der Kinosubstanz

A Torinói ló von Béla Tarr

Versteht man unter dem Dokumentarischen weniger einen Authentizitätsdiskurs glaubwürdiger Wirklichkeitsabbildung, als vielmehr die Befragung gängiger Wahrnehmungsmuster, dann geraten gerade auch vermeintlich fiktionale Spielfilme in das Territorium des Dokumentarischen.

"A torinói ló" © Internationale Filmfestspiele Berlin

„A torinói ló“, R.: Béla Tarr © Internationale Filmfestspiele Berlin

Béla Tarrs A TORINÓI LÓ (THE TURIN HORSE) nun bestellt das Feld des Dokumentarischen thematisch mit der Saat der Hoffnungslosigkeit und der monologisch angelegten menschlichen Kommunikation. In einer streng durchkomponierten Inszenierungsstrategie, wird das Filmbild zu einer Art obsessiven Durchdringungsmaschine, die im Dienste einer Glaubenssuche zu stehen scheint. Was wird hier versucht zu durchdringen und wie ist der Glaube hier beschaffen? Und wie steht dies wiederum mit dem Dokumentarischen in Verbindung?

Nietzsches Umarmung eines Pferdes, das von seinem Kutscher zu Tode geprügelt wird, ist Initiierungsmoment der Geschichte und gleichzeitig deren mythologische und philosophische Hypothek. Eingeleitet durch eine männliche Stimme aus dem Off vor schwarzer Leinwand, vergegenwärtigt sich jene Anekdote aus Nietzsches Leben in einer akusmatischen Situation. Es folgt eine gespiegelte Schöpfungsgeschichte in sechs Tagen, deren siebenter Tag am Ende dem Zuschauer überlassen bleibt. Zu sehen ist nun das Leben des Kutschers mit seiner Tochter in einer Steinhütte und einem Pferdestall mitten in einer steppenartigen Senke umgeben von laublosen Bäumen und trockenen Sträuchern. Ein anhaltender, apokalyptischer Sturm unterstreicht die Atmosphäre hoffnungsloser Vergessenheit in einer Nicht-Zeit. An diesen sechs Tagen wird in einer Art rituellen Wiederholung immer wieder die gleiche Handlung gezeigt. Die Tochter zieht den Vater am Morgen an, holt Wasser aus dem Brunnen, sie essen Kartoffeln, sie stopft Löcher, er bearbeitet einen Ledergürtel, das Pferd wird gefüttert, vor den Wagen gespannt, wieder abgespannt, der Mist hinausgetragen, die Tochter zieht dem Vater das Nachkleid an. Die Variation besteht in der unterschiedlichen Perspektivierung an jedem Tag. Mehrfach jedoch wird jene Variation in der Wiederholung unterbrochen: einmal ist es ein Mann, vielleicht ein ferner Nachbar, der von dem Tod Gottes berichtet und dem Unheil, das ausgehend von dem Menschen über die Menschen einbrechen wird. Ein anderes Mal ist es eine streunende Zigeunerbande, die das Wasser des Brunnens erbeuten will und von Vater und Tocher verjagd wird. Als schließlich der Brunnen versiegt, reisen Vater und Tochter mit dem Pferd ab, um dann wiederzukehren. In einer Steigerung aus erdrückender Schwermut verweigert das Pferd erst das Traben, dann das Essen, schließlich das Trinken.

Wie Béla Tarr hier das Sterben des Tieres inszeniert ist interessant zu beobachten: der Kutscher nimmt dem Pferd ein letztes Mal das Geschirr vom Hals. Eine Geste der Befreiung von der Mühsal der Knochenarbeit auf steinigen Feldwegen, die in den Tod führt. Eine Last, unter dessen Joch auch der Zuschauer steht und sich am Ende des Films ebenfalls befreit findet ohne aber einen kathartischen Moment: der wird auf den siebten Tag ausgelagert, der, wie schon gesagt, nicht zu sehen ist. Alle Orientierung gebenden Kategorien sind außer Kraft gesetzt: weder Zeit noch Ort sind bestimmbar, auch wenn im Prolog auf das Jahr der Anekdote verwiesen wird: 1889. Menschliche Interaktion zwischen Vater und Tochter ist auf ein Minimum an Gesten und Worten reduziert. Wenn Sprache erklingt, dann in einem monologischen Sturm der Sinnleere. Karnevalesk tobt die anarchische Zigeunertruppe. Das schwarz-weiße Filmbild unterstreicht meist symmetrisch komponiert in seinem Kontrastreichtum und der starken Körnung die ruinöse Stimmung.

“Der letzte macht das Licht aus”, so titelte eine Filmkritik zum Film und behauptet, dass der Film lediglich “von vorn bis hinten gepanschter Tarr” sei. Unabhängig davon, ob der Vorwurf der Wiederholung nun tatsächlich berechtigt ist, bleibt ja doch die Frage, warum Béla Tarr beschlossen hat, dass dies sein letzter Film gewesen sei? In einem Interview sagt er aus seiner künstlerischen Überzeugung heraus, dass er sich nicht selbst kopieren wolle und einfach nichts mehr zu erzählen habe. Daraus ziehe er die Konsequenz keine Filme mehr machen zu wollen. Was mag dies wohl sein, was hier das Werk Béla Tarrs abrundet, vollendet bzw. erschöpfend abschließt?

Im Grunde gibt es nur einen Halt in der durch den Film evozierten Hoffnungslosigkeit: das Kino selbst als Ort, wo jenes Schauspiel erscheint. Dies soll nun nicht heißen, dass “A Turin Horse” eine Metapher oder gar Allegorie auf das Ungarn der Jetztzeit ist. Béla Tarr jedenfalls legt selbst eine Lesart nahe, wenn er sich auf die Änderungen am Mediengesetz in Ungarn empört zeigt: der Tod des Kinos und der Kunst im Allgemeinen. Die zur Darstellung gebrachte Hoffnungslosigkeit wäre dann eine Allegorie auf die derzeitigen Produktionsumstände in Ungarn. Dies wäre eine noch genauer filmhistorisch aufzuarbeitende Lesart, zumal Béla Tarr sich auf ein Script von László Krasznahorkai stützt, das dieser vor etwas 20 Jahren geschrieben hat.

Dokumentarisch wird A TORINÓI LÓ gerade durch die Dauer der Einstellung, die Wiederholung in Variation, die eine ganz eigene kinematographische Dramaturgie erzeugt und mit gängigen Wahrnehmungsmustern bricht. Die Dauer der Einstellung legt einen Affektschleier auf die Leinwand: man entkommt den Filmbildern in ihrer niederschmetternden Unbarmherzigkeit nicht. Durchdrungen wird hier eine imaginäre Welt vor aller funktionierenden Kommunikation. Eine Welt der Möglichkeitsbedingungen, die ein fragiles Fundament freilegt, auf dem wir uns so selbstverständlich bewegen: Sprache, Bilder, Gesten, Töne. Durchdrungen werden die Modi filmischer Inszenierung, die die Tektonik des Mediums Kino selbst abklopft und freilegt: die variierten langen Einstellungen der immer gleichen Handlung zeigt die Kontingenz jener Repräsentation auf, die im Modus der Präsentation immer eine andere Wirklichkeit zeigt: der Vater stopft sich die noch kochend heißen Kartoffeln in den Mund, während die Tochter diese vorsichtig schält und durch Pusten abkühlt. Jeweils zu sehen an unterschiedlichen Tagen aus einer je anderen Perspektive. Differenzen tauchen auf, die eine eigene dramaturgische Spannung aufbauen. Die symmetrisch komponierten Bilder bedienen sich eines Bildregimes der Macht, das wiederum hier zum Zwecke des apokalyptischen Blickes instrumentalisiert wird. Die Oberflächen sprechen eine ruinöse Sprache des Verfalls und der Nacktheit, die Vegetation zeugt von Herbst und (schneelosem) Winter.

Der Glaube findet hier nur Halt im Film selbst: die Erzählerstimme erklingt engelhaft als Rahmen eines kalten Kerns menschlicher Kommunikation. Die Stimme bezeugt einen Glauben durch den Film an den Film als Boten nicht nur einer Vernichtung von Wirklichkeit, sondern auch seiner eigenen Vernichtung. Der Film ist in einer Sphäre des Zauderns angesiedelt, die nicht jener tarkowskijschen Zone entspricht, wo die Welt des denkbaren tatsächlich erscheint. Bei Béla Tarr berichtet der Film in entschiedener Kälte von seiner Ohnmacht gegenüber seiner eigenen Potenz des Wirklichkeitseffektes.

Vielleicht ist ja das Thema von “A Turin Horse”, dass der Film im Allgemeinen das Problem hat, seinen Bildern zu viel an Glauben zu schenken und sie dadurch mit einer Überzeugung ausstattet, auf die der Zuschauer immer wieder hereinfällt bzw hereinfallen möchte. Der Glaubenskredit ist schier unerschöpflich, auch wenn durch die digitalen Medien zumindest Skepsis Einkehr gefunden hat. Tarr unternimmt den Versuch an der Substanz des Kinos zu zerren: den Wirklichkeitseffekt und die Geduld des Zuschauers. Diese schmerzhafte Vivisektion setzt das unsichere Fundament unserer medialen Konstitution frei. Über die wahrnehmungspolitischen Implikationen müsste noch eigens gesprochen werden.

Tarrs Film tritt in seiner medialen Funktion als Bote auf: “Fremdgegenwärtigung durch Selbstneutralisierung”1. Der Film als lustvolle Wohlfühlware tritt hinter ihrer konsequenten und schmerzhaften Befragung zurück. Ob dies nun implizit oder explizit Programm des Films ist, ist im Grunde gar nicht der Punkt: der Film präsentiert eine andere Perspektive, nämlich eine mediale Reflektion auf Repräsentationssysteme. Dies scheint mir ein mit dem Dokumentarischen sehr eng verbundener Aspekt zu sein. Lässt sich die erschütternd sinnleere Rede des Patinka kaufenden Besuchers ebenfalls von seiner medialen Funktion her verstehen?

Wenn also tatsächlich der Glaube an die Botenfunktion des Kinos durch Béla Tarr thematisch wird, ist dies vielleicht jener letzte Punkt, der das Oeuvre abrundet. Wieso allerdings Tarr das Kino in seiner Substanz nicht für eine “Turbine der Geschichte” (A. Kluge) hält und damit eine Öffnung hin zu einer Vielfalt an Ausdrucks- und Redemöglichkeiten sieht, bleibt unklar.

[1] Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, suhrkamp, Ffm, 2008, S. 118.