„Wir sollten nicht übertreiben damit, wie mächtig Filme sind. Sie sind immer noch Unterhaltung. Aber ich glaube tatsächlich, dass wir eine moralische Verantwortung haben, das Gute zu fördern und Botschaften auszusenden, von denen die Welt profitiert. Sogar wenn es nur eine simple Botschaft ist wie: Wacht auf, und riecht mal am Kaffee! Denn wir zerstören gerade den Planeten.“
James Cameron
Ausgehend von jenem Zitat aus dem Spiegel-Interview mit dem kanadischen Regisseur James Cameron, richtet sich Peter Kramer mit grundlegenden Fragen an sein eigenes wissenschaftliches Feld und insbesondere an seine Zunft. Die Besonderheit dieses Vortrages bestand in seiner nicht rein wissenschaftlichen Haltung gegenüber seinem Thema. Das Thema, so Kramers These, fordert ganz individuelle, pragmatische Konsequenzen für das Leben jedes einzelnen, der an die Wirkung von Film glaubt.
Im Folgenden soll nicht der Vortrag im einzelnen nachvollzogen werden, sondern der Kommentar richtet sich auf einige zenrale Thesen und deren filmwissenschaftlichen Implikationen sowie den in diesem Falle lebenspragmatischen Konsequenzen. Peter Krämer gliederte seinen Vortrag in drei Teile: 1. Avatar, 2. Film Studies, 3. The world today. Damit sind jene drei Bereiche abgesteckt, deren er sich bedient, um in seinem Fallbeispiel-Theorie-Gegenwarts-Modell (damit ist das ineinander verzahnte Dreigespann der Filmwissenschaft bezeichnet: Analyse, Theorie und Geschichte) einen Baukasten für eine pragmatische Lebensweise herauszukristallisieren. AVATAR (R.: J. Cameron, USA, 2009) ist hierbei Stellvertreter jener Blockbuster der letzten Jahre, die sich verstärkt dem Thema des kollabierenden Ökosystems zuwenden und entweder ein apokalyptisches Untergangsspektakel inszenieren (2012, R.: R. Emmerich, USA, 2009) oder aber die Welt nach jenem Untergang in den Fokus rücken (WALL-E, R.: A. Stanton, USA, 2008) und damit ein neues Genre etablieren: „global warming films“
Peter Kramer wies AVATAR aber nicht nur in jene Reihe ein, sondern hob hervor, in welcher besonderen Konstellation das Release-Date stand: die gescheiterte UN-Klimakonferenz im Dezember 2009 zeigte exakt jene Perspektive vor, die bei AVATAR zeitgleich im Kino bereits Realität geworden war und eine utopische Alternativlösung in dem Volk der naturverbundenen Na`vis gefunden hat. Zeitgleich erhielt die neue 3D-Technologie Eingang in die Multiplexe und leitete damit einen technologischen Initiationsschub ein wie einst die Star-Wars-Reihe mit der Dolby-Technik und Jurassic-Park mit den CGI-Bildern. Anders als jene Vorgänger des Blockbuster-Kinos war die globale Reichweite von AVATAR ein ungleich avancierteres Unternehmen. Peter Kramer weist auf statistische Daten hin, dass im Durchschnitt jeder dritte Mensch AVATAR gesehen hat. Kein Film hat mehr Menschen erreicht als dieser. Man könne also davon sprechen, dass dieser Film eine „global community“ bildet. Wenn DR. STRANGELOVE (R.: S. Kubrick, USA, 1964) die Selbstzerstörungstendenz des Menschen als konstitutiv für die Menschheit setzt, so ist 2001: A SPACE ODYSSEY (R.: S. Kubrick, 1969) der optimistische Gegenentwurf, in der die Menschheit gelernt hat mit der rationalen Technologie ins All zu reisen und dort die Möglichkeit einer Begegnung mit alternativem Leben hat. In AVATAR, so Kramer, kommt nun beides zusammen: einerseits der pessimistische Entwurf einer durch den Menschen zerstörten Natur, andererseits die rettende Alternative durch Technologie in einer neuen Spezies wiedergeboren zu werden. So ist denn dem technologisch-rationalen Blick des Menschen eigen zum Vehikel eines Bündels von Handlungsoptionen zu werden, deren zwei Extreme Selbstzerstörungs- und Erlösungsfantasien sind.
Kramer geht zwar darauf nicht ein, dass aber die Wiederkehr, bzw. Wiedergeburt ein typisch christliches Motiv sei, darauf hat Emmanuel Levinas hingewiesen. Dass das Andere, das jüdische Denken ein Denken ohne Wiederkehr ist, macht hier noch einmal deutlich wie sehr AVATAR als globaler Film eigentlich einem christlichen Denken verhaftet ist, obgleich er für sich unter dem Etikett der Angst vor einem Kollaps der Umwelt Hoffnung auf Erlösung stiftet. Dies könnte in Kramers These einer Zusammenkunft zweier Menschheitskonzepte mit aufgenommen werden.
Doch welche Rolle spielen diese Überlegungen einer global operierenden Kinoindustrie nun für die Filmwissenschaft selbst? Peter Kramer stellt sie so: “Why we as lectures or students do research?” Antwort: a. weil es für uns bedeutungsvoll ist und Vergnügen bereitet. b. weil es Teil der Jobbeschreibung ist und die Qualität der akademischen Publikationen gewahrt bleiben muss. c. weil es für Leute außerhalb des Fachbereichs eine Bedeutung hat und die Hoffnung besteht, dass es von Relevanz für die Welt ist.
Kramer weißt auf das Minoritätendasein nicht nur der Filmwissenschaft als akademische Disziplin hin, sondern auch seines Gegenstands selbst: Filme gehören zwar immerhin laut einer von ihm zitierten Umfrage zu den vier Dingen, die am meisten Spaß machen (Sex, Spiele mit dem eigenen Kind, Sport, Filme schauen). Doch stellen sich grundsätzlich Fragen der Messbarkeit von „Einfluss“ auf das Handeln des Menschen. Einmal abgesehen von der Erfassung der Distribution, die im Bereich der Kinoscreenings recht genau funktioniert, wenn denn eine globale Statistik existierte (IMDB z.B. nimmt nur 8 der höchstentwickelten Länder in die Statistik auf), ist es aussichtslos das gleiche auf DVD, Internet oder gar Raubkopien anzuwenden. Zudem stellt sich dann neben der Reichweite noch eine ganz andere Frage: wie sollte eine Wirkung des Films auf den Zuschauer wissenschaftlich messbar sein und welche Kriterien müssten hierfür herangezogen werden. Bemerkenswert ist hierzu, dass nicht die Filmwissenschaft, sondern das Klimaforschungsinstitut Potsdam hierzu eine Studie herausgebracht hat, die die Wirkung von THE DAY AFTER TOMORROW (R.: R. Emmerich, USA, 2004) anhand von 1000 Interviews untersucht. Ein für die zeitgenössische akademische Forschung interessanter Aspekt ist der Hinweis Kramers auf die Tatsache, das durch die Kürzungen im britischen Staatshaushalt jedes wissenschaftliche Institut einen Forschungsbericht vorzulegen hat, um über die Relevanz der Disziplin, den Forschungsgegenstand und die Bedeutung für die Gesellschaft Rechenschaft abzulegen. In der Konsequenz sind vor allem die Geistes- und Sozialwissenschaften zu globalen Themen gerückt, deren Chance auf Relevanz für die Gesellschaft naturgemäß dadurch steigt. Insofern geht es bei all diesen Überlegungen auch um den Selbsterhalt einer institutionalisierten Disziplin, die dem Wandel der akademischen Landschaft ausgesetzt ist.
In Ansehung der statistisch marginalen Bedeutung der Filmwissenschaft und ihrem Gegenstand im Vergleich zu sozialen Institutionen wie Schule, Ehe und Freundschaft zog Kramer die Konsequenz als individueller, verantwortungsbewusster und besorgter Staatsbürger – und eben nicht als Wissenschaftler – sein pragmatisches Handeln zu befragen. Kramer zitierte aus einigen Artikeln und Büchern von Klimaforschern, Philosophen (u.a. John Monrioe THE AGE OF CONSENT, Amartya Sen THE IDEA OF JUSTICE, Harald Welzer ÜBERLEBEN, ABER WIE?) und argumentierte, dass für ihn eine Ebene erreicht sei, wo er als Person Verantwortung im Sinne eines sozialen Handelns begreift. Spenden, mit dem Zug anstelle des Flugzeugs reisen, dies und viele andere Konsequenzen zog er aus diesen Überlegungen. Für die Filmwissenschaft rückt er den Fokus auf Hollywoodfilme, um an ihnen die großen Themen unserer Zeit zu untersuchen. Die zentrale Frage lautet hier: was kann die Filmwissenschaft in Sachen globaler Probleme wie Hungersnot und Klimawandel beisteuern, um das Leid zu mindern?
Die pragmatische Konsequenz, die Peter Kramer zieht, ist vielleicht eher als eine von vielen Möglichkeiten zu betrachten, wie auf die „globalen Themen“ reflektiert und tatsächlich gehandelt werden kann. Diese Perspektivierung läuft jedoch Gefahr die Wirkung von Film auf einen sozialen Begriff zu reduzieren, der allein pragmatisches Handeln einfordert. Selbst wenn man (wie auch Peter Kramer sich selbst bewusst widersprochen und relativiert hat) davon ausgeht, dass irgendwelche Filme, irgendeine und ganz verschiedene Wirkungen auf ganz verschiedene Leute haben kann, führt dies letztlich auf eben jene Untersuchungen, die die Filmwissenschaft seit jeher anstellt: Fragen der Repräsentation jenes „suspension of disbelief“, der nicht zuletzt auch in der medialen Präsenz des Films seinen Ursprung hat. Die Gretchenfrage nach dem Glauben an Film und den Glauben, der durch den Film nicht nur vermittelt, sondern zuallererst evoziert wird rückt daher als letzte Instanz jener Problematik in den Fokus.
Was ist Weltkino und welche Rolle spielt Wissenschaft als eine kritische Praxis in der Problematisierung sogenannter globaler Themen?
Daraus ließe sich ein ganzes Programm filmwissenschaftlicher Untersuchung anstellen: aus der Analyse von AVATAR als eines Films, der zwei utopische Menschheitskonzepte zusammenführt, sowie den Realitäten anderer „global warming films“ ließe sich unter der Annahme einer „globalen Perspektive“, zu der unter anderem Kriterien der Distribution, des Budgets, des Filmthemas sowie der Rezeption gehören, Filmgeschichte neu schreiben und filmtheoretisch fundieren. Diese Filmtheorie müsste die Wirkungsästhetik der Filme mit einem anthropologischen Konzept verknüpfen. Ist hierbei nicht die Crux des alten epistemologischen Problems gegeben, bei dem der Gegenstand der Untersuchung, erst durch die Perspektivierung hervorgebracht wird? Und hat nicht gerade die institutionell eingebundene Filmwissenschaft ein Interesse daran, den Filmen nicht nur eine Wirkung zu attestieren, sondern ihnen – unter den neuen akademischen Anforderungen – auch eine bestimmte Wirkung zuzuschreiben, die darauf zielt, dass mithilfe der Filmwissenschaft erfasst werden könne, wie globale Themen durch den Film das konkret pragmatische Handeln des Menschen forciert und provoziert?