PARADIES: LIEBE ist der erste Teil einer Trilogie, deren zweiter Teil, PARADIES: GLAUBE, bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere hatte und bei uns Ende März in die Kinos kommen wird. Der dritte Teil, PARADIES: HOFFNUNG, wird auf der Berlinale zu sehen sein.
You’ll never find an audience that wants to laugh more than a horror audience. (Stuart Gordon)
Noch bevor der Abspann des Films einrollte, lösten sich einige erleichterte Stimmen im Publikum, es sei nun endlich vorbei. Nach teils gepresstem Lachen im Publikum (darf man jetzt?) wandert der Druck noch während des Abspanns aus den sich zügig lichtenden Sitzreihen. Tatsächlich aber erschien nach dem Abspann noch einmal die Zebramuster-Band mit dem Gitarristen in weißer Uniform. Eines der vielen skurrilen Bilder. Der Saxophonist ist aus der Reihe getreten, tanzt vor der Kamera und fällt schließlich zu Boden. Diese Sequenz folgt einem strukturellen Prinzip, dass man von den Animationsfilmen der Pixarstudios her kennt, bei denen die Zuschauer während des Abspanns durch eigens inszenierte Outtakes bei Laune gehalten werden. Eine Art unaufgeforderte, aber gern angenommene Zugabe, die zugleich die Trennung von vorfilmischer und filmischer Welt ad absurdum führt. Bei Seidl nun steht diese Szene schon außerhalb des Films, wirft aber ein Licht auf das Verhältnis von Leinwand und Zuschauer. Die Einstellung verweist zugleich auf eine frühere Szene, in der die Band vor einer halb angetrunkenen, und teils im sitzen eingeschlafenen Zuschauerschaft auftritt. Die hierbei häufig wiederkehrenden hart kadrierten Frontaltotalen betonen die Projektionsfläche Leinwand als Spiegel und geben das Bild als Imperativ an uns zurück: das geht Dich was an! Was das genau ist, muss wohl derweil jeder für sich entscheiden.
Zum Anfang: Die fünfzigjährige Terese (Margarete Tiesel) aus Wien steht vor einem gemalten Palmenstrand am Rande einer Autoskooterbahn. In einem fulminanten Auftaktgeschubse prallen die belustigten Menschen mit Downsyndrom in ihren Autoskootern aneinander. „Net so doll“, ermahnt konsequenzlos Terese die vertieften Fahrer. Nach ihrer Arbeit als Behindertenbetreuerin, Zurechtweisung ihrer pubertierenden Tochter, penibles packen der Klamotten für die Abreise nach Kenia. Die Tochter wird vorsorglich bei einer Freundin untergebracht. Terese ist allein erziehend.
In Kenia angekommen belehrt uns der Busreiseführer mit einheimischen Worten: „Jambo“ heißt „Hallo“ und das verträumt-seelig-heile „Hakuna matata“: „kein Problem“. Willkommen in den böhmischen Dörfern Kenias. Sie ist nun in den auf Blech gemalten Palmenstrand eingetreten und ihrer Sehnsucht gewissermaßen nachgereist. Im Hotelzimmer nach westlichem Standard wird die glänzende Toilette mit Hygienespray peinlich genau gereinigt. Der Hotelbereich mit Sonnenliegen ist durch eine Kordel vom Rest des Strandes getrennt, an dem die Beachboys ihre Accessoires und Dienste anbieten. Die Kamera betont die Frontalität dieser Grenze derart stark, dass die tiefenangeordneten Beachboys wie verkörperte Angebote dem Jenseits unter dem Meer entstiegen zu sein scheinen. In einer Szene versucht Terese Affen, die auf ihren Balkon gesprungen kommen mit Bananen zu ködern, um von ihnen ein Foto machen zu können. Sie sind schneller. Ein Foto hat sie nicht erbeutet. Der nächste Affe kommt schon wissend hergesprungen. Sinnbildlich leuchtet hier ihre offenherzige Naivität im Umgang mit dem Fremden auf: und zugleich die Gefahr einer metaphorischen Gleichsetzung von Affe und schwarzen Mann. Später wird sie im Versuch ihrer Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit Kredit zu geben, den flehenden Bitten des Beachboys Munga (Peter Kuzungu) erliegen, aber dieses Mal dessen Penis als Handybildtrophäe mit nach Hause nehmen. Die vakante Gleichsetzung von Affe und schwarzer Mann zeigt aber, dass sich der Film einer Schwierigkeit zu stellen hat, die er nicht los werden kann: primär männliche Europäer machen einen Film darüber wie Europäerinnen als Sextouristen nach Afrika reisen. Das komplexe Projektionsverhältnis löst sich hierbei nicht in einer einfachen Anklage gegen die fülligen Wiener Damen auf: vielmehr verunsichert der Film durch seine Ambivalenz zwischen Blöße und arroganter Herrschsucht der Protagonistin.
Überhaupt sind die Körper in ihrer üppigen Nacktheit ausgestellt: es hat etwas Volksbühnenhaftes an sich, die Fremdscham der Komik Preis zu geben. Die abnormen Fettschwülste am Leib der Frauen nährt ihr Bedürfnis nach echtem Augenkontakt: dem schwarzen Mann in die Augen sehen zu können. Ganz lange. Später wird der Beachboy Munga dieses Bedürfnis kurzzeitig befriedigen. Ein insistierendes Verhandeln über Zärtlichkeiten geht dem Techtelmechtel voraus – nur scheinbar steht die penible Hygiene Tereses in Widerspruch zur Abwesenheit ihrer Angst vor Aids. Eine überhaupt überraschende Nicht-Präsenz. Diese Abwesenheit macht ihr herrisches Verlangen nach authentischer Liebe nur umso tragischer. Kondome fordert vor allem der Mann ein. Wenn es um Zärtlichkeit geht, erreicht Tereses Beharrlichkeit den intensivsten Punkt. Sie erscheint gewissermaßen als professionelle Zärtlichkeitslehrerin. Die kurzen Momente der Seligkeit sind zur Ikone des Films geworden und zieren die Plakate: Terese als schlafende Schöne hinter blauem Schleier eines Himmelbetts.
Bis unter der Doppelbödigkeit Mungas ein monetäres Interesse auch für Terese sichtbar wird. Die Sehnsucht, die ihr vorausgereist war, ihre Hoffnung, dass sich ihr nach Liebe lechzender Triebakku wieder auflädt, stößt auf die Realität gegenseitiger Ausbeutung. So bildet diese Sehnsucht eine tag-nacht-bewachte Ökonomie im Zombiegewand des gehegten Pauschaltouristenambientes aus, die auf der Gegenseite mit seelischem Trickbetrug beantwortet wird. Auf der Ebene des bunten Mädchenportemonaies besteht zu keinem Moment Zweifel über die Kontrollgewalt der Europäerinnen, die ihre Zahlkraft mit pennäl-tantigen Rassismen flankieren und hysterisch in sich hinein kiechern und glucksen (die Speckschwartl-Szene an der Bar). Man erfreut sich an dem Aussprechbaren jenseits des Tabuisierten, von dem man zugleich auch erschrocken ist. Ein Horrorhumor. In Zimmer Nr. 5, der konkret physischen Begegnung mit der „knusprig, knackick, kokosduftenden Negerhaut“, dreht sich dieses Verhältnis um: Terese erlebt Gewalt, uneinsichtiges Unvermögen und Gleichgültigkeit. Paradies Nr. 5 entpuppt sich als krampfhaft busentatschende Mechanik resonanzloser Schalheit. Die Körper der schwarzen Männer verbleiben in schlecht gespielter Leidenschaft.
Zu ihrem Geburtstag bekommt Terese zwar keinen Anruf von ihrer Tochter, dafür aber einen Beachboy frei Haus von ihren Freundinnen: sie binden ihm nach einem Striptease eine Schleife um den Penis und spielen um ihn: wer ihm eine Erektion machen kann, hat gewonnen und darf ihn haben. Die Erektion will sich nicht recht einstellen. Eine schwer zu ertragende Szene, in der alle Karten sexueller Rassismen noch einmal aufs Bett getischt werden. Einer seriellen Logik ihrer Suche nach einem zärtlich-liebenden Beachboy folgend erschöpft sich auch die Erzählökonomie in dem bloßen Tatbestand, dass sie nun einen „neuen“ hat. Sie bittet ihn, sich gründlich mit Seife zu duschen und sie dann an den Zehen, Knie, Bein und schließlich am Geschlecht zu küssen. In ihrer herrischen Hysterie verweigert Yousefh ihr diese Dienstleistung. Er möchte zwar, aber könne nicht. Sie schmeißt ihn ohne Geld raus.
Die moralische Beunruhigung und Herausforderung für den Zuschauer liegt ja gerade darin, dass diese Leibesopfer der Kamera einer schambesetzten Komik ausgeliefert werden. Das Lustige ist zugleich abgründig, das Begehrte zugleich das Herrisch kontrollierte. So wundert es auch nicht, dass die Vorwürfe an den Filmemacher, er würde seine Protagonisten genau dieser Scham und Ausbeutung aussetzen, der sie andernorts ebenso unterliegen, eine Flucht vor der moralischen Dringlichkeit suchen. Der performative Widerspruch des Films liege dann darin, dass er die Logik wiederhole, die er behauptet auszustellen. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich wohl nicht letztgültig auflösen, gerade dann nicht, wenn der Authentizitätsanspruch ans Improvisierte hoch gehalten wird. Andererseits: nehmen sich die Kenianer nicht tatsächlich etwas schal aus? Perlen an ihnen die Grobheiten nicht eine Spur zu resonanzlos ab, willig sich dem eigenen Lächeln als Freundlichkeitswaffe hinzugeben? Oder sind dies blos die leibhaftigen Projektionen Tereses? Ob man das Projektionsdilemma auf der diegetischen oder vorfilmischen Welt ansiedelt, die Herausforderung für die Moral bleibt.
Der Film schreibt sich ungewollt auch in eine Reihe deutschsprachiger Produktionen der letzten Jahre ein, die sich dem Thema Afrika aus postkolonialer Perspektive widmen. Hat sich die Vorstellung vom Paradies bei Ulrich Seidl im Abgrund des Geldes ausgeträumt, so ist es bei Jan Zabeil eher der existenzielle Verlust des Selbsts und bei Ulrich Köhler der Versuch Afrika sein animistisches Erbe zurückzugeben.