Familie und Kino: Scorsese in Berlin

Die Kinemathek feiert den 70-Jährigen Filmemacher

„New York“ und „Kino“ heißen zwei der insgesamt neun Bereiche der im Januar eröffneten und bis zum 12. Mai 2013 andauernden Ausstellung im Museum für Film und Fernsehen der Deutschen Kinemathek. Ließen diese auch noch das Schaffen Woody Allens als ehemals besonders fleißigen Chronisten der Stadt treffend einteilen, lassen weitere Titel wie „Familie“ und „Lonely Heroes“ keine Zweifel aufkommen, wessen Lebenswerk im Filmhaus am Potsdamer Platz von den beiden Kuratoren Kristina Jaspers und Nils Warnecke inszeniert wird.

Martin Scorsese (NEW YORK, NEW YORK, 1977). Martin Scorsese Collection, New York. Zur Verfügung gestellt von der Deutschen Kinemathek

Martin Scorsese (NEW YORK, NEW YORK, 1977). Martin Scorsese Collection, New York. Zur Verfügung gestellt von der Deutschen Kinemathek

Die Filme von Martin Scorsese sind geprägt von dessen Kindheitserinnerungen. Das Aufwachsen in einer italienischen Einwandererfamilie, die moralische Erziehung durch die katholische Kirche, das kriminelle Treiben in und um Little Italy sowie die vielen mitunter der Asthmaerkrankung geschuldeten Stunden vor dem 16 Zoll messenden Schwarz-Weiß-Fernseher der Eltern sind nachhaltige Einflüsse, dessen Auswirkungen sich vom Früh – bis zum heutigen Spätwerk des Regisseurs nachzeichnen lassen. Das findet man bei anderen sogenannten Autorenfilmern in ähnlichem Maße, bei François Truffaut oder bei Alfred Hitchcock um nur zwei der populäreren Beispiele zu nennen, doch selten derart konsequent und in seiner ganzen Authentizität nachvollziehbar wie etwa in den dokumentarischen Filminterviews Scorseses mit seinen Eltern Charles und Catherine Scorsese in ITALIANAMERICAN (USA 1974). Diesen Spuren folgend, stellt die Ausstellung den gelungenen Versuch dar, durch Transparentmachung seiner Arbeitsweise die enge Bindung von Leben und Werk chronologisch zu beschreiben. Da wundert es nicht, wenn man direkt im ersten Ausstellungsbereich über dem Esstisch der Familie auch gleich die halbe Wandgarnitur mit Jesusabbildern und dem Christuskreuz vorfindet. Die eigentliche Mammutaufgabe der inhaltlichen Aufbereitung des filmischen Imperiums Scorseses orientiert sich dementsprechend auf angenehm schlichte und unaufgeregte Weise an jener familiären Zentrierungslogik.
»Brüder« nennt sich Eines der ersten Kapitel und erklärt die thematische Verwobenheit von den differenzierten wie gleichermaßen diffizilen Beziehungen der Filmprotagonisten mit Scorseses privatem Familienbild. Robert De Niro bildet zunächst mit Harvey Keitel in MEAN STREETS (USA 1973), schließlich mit Joe Pesci in GOODFELLAS (USA 1990) und CASINO (USA 1995) ein ungleiches Bruderpaar, das in gleichem Maße sich hassend und schützend ins Verderben stürzt und sühnen wird. In diese von der Schuld getragenen Konstellationen wird häufig in Form von Fotografien und Home Movies eingeführt, die mit der entsprechenden Musik, die in der Ausstellung übrigens mit einem eigenen Abschnitt vertreten ist, eine zeitlich determinierte Collage von vergangenen Familiengegebenheiten erzeugen.

Scorseses Kinematographie ist gekennzeichnet von dem Umstand, dass er der Generation von Filmemachern angehört, die bereits mit genuin filmischen Bildern groß geworden ist und den Film von Beginn auf reflektiert lernen, d.h. auch an Akademien studieren konnte. Sein erstes, nie umgesetztes und nun in der Kinemathek ausgehängtes „MarSco“-Storyboard zeugt von dem frühzeitig ausgebildeten Vermögen des Elfjährigen, in Bildern zu erzählen. Alte Originalplakate, die für Federico Fellinis oder auch Michael Powells Filme werben, entstammen Scorseses umfassender Privatsammlung und beleuchten dessen motivische Inspirationsquellen ohne dabei als das reine Vergnügen eines akribisch umtriebigen Cineasten für sich zu stehen. Denn während den Dreharbeiten zu RAGING BULL (USA 1981) macht Scorsese auf die Abnutzung alten Filmmaterials aufmerksam und gründet 1990 in illustrem Kreis, dem Freunde und Kollegen wie Steven Spielberg, Francis Ford Coppola, Stanley Kubrick, George Lucas und Robert Redford angehören, eine Stiftung zum Erhalt des weltweiten Filmerbes. Die Non-Profit-Organisation „The Film Foundation“ zeichnet sich verantwortlich für die Aufrechterhaltung von mehr als 560 Filmen verschiedener Archive. Aus dem Filmliebhaber wird ein Filmbewahrer.

Drehbuchentwürfe, Briefe sowie Originalabzüge von Privatfotografien sind in ihrer Kontextualisierung auf die Erfahrbarmachung persönlicher wie professioneller Produktionsumstände ausgerichtet. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang ein großzügig ausgestalteter Bereich, der sich Scorseses Heimat New York widmet. Eine Miniatur der Stadt verortet mithilfe von hinzugeschalteten Filmausschnitten dessen Handlungsschauplätze. Auf welchen Straßen penetriert THE KING OF COMEDY (USA 1983) sein Idol Jerry Lewis, in welchem Viertel scheitert der TAXI DRIVER (USA 1976) mit seinem Attentat und wo fanden die Kämpfe der GANGS OF NEW YORK (USA 2002) statt? Das Exponat gibt ein Gefühl dafür, wie Scorsese die Stadt zu sehen scheint, die mit Bedacht gewählten Requisiten choreographieren seine Person überdies als ihr allumfassender Seismograph.
Die Liebe zum Detail teilt er indes mit einer um ihn gescharten Riege von Partnern, deren Arbeit ebenfalls Berücksichtigung im kuratorischen Selektierungsprozess gefunden hat. Thelma Schoonmaker, langjährige Freundin und bis heute im Dienste Scorseses aktive Cutterin offenbart ihr Faible für tabellarische Ordnung, Sandy Powells Skizzen verdeutlichen den langen Weg vom ersten Kostümentwurf bis zum fertigen Abendkleid für die Rolle der Katharine Hepburn in THE AVIATOR (USA 2004). Folgerichtig trifft man weiter auf den komponierenden Bernard Herrmann und den expressiven Bildgenerator Michael Ballhaus. Für die Einen fühlt sich das an wie nach langer Zeit wieder einmal nachhause Zukommen, für die Anderen ist es der Willkommen heißende Einstieg in eine zweite Welt, dem „MarSco“-Universum. Ausgestellt wird nicht länger eine bestimmte Vorstellung von dem, was Filme sein können, es ist das Kino selbst, das die Räume ausfüllt. Wörtlich tut es das in einem kleinen Projektionsraum der Ausstellung, in dem eine kleine Videomontage das Werk pointiert und in Endlosschleife veranschaulicht. Die retrospektive Aufmachung wird, glücklicherweise, von einer Set-Fotografie im ersten Teil der Schau gebrochen. Sie zeigt im Ausschnitt die Dreharbeiten zu THE WOLF ON WALL STREET (USA 2013), dem Grund für Scorseses Verhinderung zur Vernissage. Die Deutsche Kinemathek wird es nicht zuletzt aufgrund der gewohnt sympathischen Präsenz Scorseses über eine Videobotschaft wohl verkraftet haben und alle anderen atmen auf und genießen beruhigt den zweiten Teil der Schau: Es geht weiter.


Zur Person:

Joshua Klein studiert Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam, lebt und arbeitet in Berlin.