Auf den Spuren der Tonbilder

Ein Interview mit Dirk Förstner von der Deutschen Kinemathek in Berlin

Anlässlich des alljährlichen UNESCO World Day for Audiovisual Heritage am 27. Oktober 2012, präsentierte die Deutsche Kinemathek in Berlin ein Stummfilmprogramm, das von Mariann Lewinsky (Kuratorin der Sektion „Cento anni fa“ des Festivals „Il Cinema Ritrovato“ in Bologna) und Dirk Förstner (Deutsche Kinemathek) vorgestellt wurde. Neben der Projektion verschiedener Kurzfilme, fand an diesem Abend auch die deutsche Uraufführung von historischen Tonbildern statt, die im Rahmen eines gemeinsamen Projektes von Deutsche Kinemathek, der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW Berlin), der Firma ARRI Film & TV Services und True Sound Transfer restauriert wurden. Wir hatten die Gelegenheit mit Dirk Förstner, dem Restaurator der Tonbilder, ein E-Mail Interview zu führen.

Tonbildaufnahme mit Filmpionier Oskar Messter (Bundesarchiv, N 1275 Bild-184 / CC-BY-SA / Quelle: Wikimedia Commons)

Tonbildaufnahme mit Filmpionier Oskar Messter (Bundesarchiv, N 1275 Bild-184 / CC-BY-SA / Quelle: Wikimedia Commons)

FRAGMENT FILM: Herr Förstner, gleich zu Beginn eine Frage zum UNESCO World Day for Audiovisual Heritage. Der Abend und auch Ihr Projekt haben gezeigt, dass in den Archiven der Deutschen Kinemathek und auch anderer Institutionen noch zahlreiche vergessene Filmschätze lagern. Wie sehen Sie die Situation?

Dirk Förstner: Die Aufarbeitung und Erfassung vieler Filmbestände in den Archiven ist noch längst nicht abgeschlossen. Und es kommen andauernd neue Filmmaterialien hinzu! Im Moment schließen zum Beispiel zahlreiche Filmkopierwerke ihre Pforten und mit ihnen die dazugehörigen Lager, in denen Negative, Dupmaterialien und auch Positivkopien aufbewahrt werden. Sich um diese Filmmaterialien zu kümmern, sie in die sichere Umgebung eines Filmarchivs zu bringen, zu erfassen und, soweit möglich, Kontakt mit ihren Besitzern aufzunehmen ist eine Aufgabe, der sich die Filmarchive stellen müssen, wenn nicht große Teile der Filmproduktion der letzten Jahrzehnte verloren gehen sollen. Bei immer kleiner werdenden Budgets ist dies allerdings nicht einfach.

Nun konkret zu den Tonbildern. Wie kam es eigentlich zu diesem Projekt?

Die Idee wurde geboren, als die Zürcher Filmhistorikerin Mariann Lewinsky zusammen mit dem Plattensammler Christian Zwarg aus Berlin anfingen nach Platten von Tonbildern zu suchen, deren Filmkopien in der Deutschen Kinemathek aufbewahrt werden. Nach ersten Rekonstruktionsversuchen schlug mir mein damaliger Professor und Leiter des Filmarchivs der Deutschen Kinemathek Martin Koerber vor, im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit einen Work-flow zu entwickeln, nach dessen Modell Tonbilder digital rekonstruiert werden können. Da mich das Projekt auch nach dem Abschluss des Bachelor-Studiums nicht losgelassen hat, entschloss ich mich die Arbeiten in einer Master-Arbeit fortzusetzen. Herausgekommen sind dabei vier rekonstruierte Tonbilder und eine digital restaurierte Filmkopie, deren passende Tonaufnahme allerdings erst noch gefunden werden muss.

An dem Projekt beteiligt sich z.B. auch die Firma ARRI Film & TV Services. Welche Aufgabe übernimmt sie dabei? Können Sie kurz die Vorgänge bei der Restaurierung beschreiben?

ARRI Film & TV Services in München hat die praktischen Rekonstruktionsmaßnahmen überhaupt erst möglich gemacht. Im Rahmen eines Master-Werkvertrages konnte ich in München alle Arbeiten vom Scannen der Filmkopien an einem Arriscan in 2K-Auflösung über die digitale Laufbildrestaurierung, die Lichtbestimmung, die Synchronisierung von Bild und Ton bis hin zur Herstellung der analogen und digitalen Filmkopien alle Schritte begleiten und das Projekt zusammen mit Thilo Gottschling, dem Leiter der Restaurierungsabteilung, und seinen Kollegen durchführen. Das war eine sehr interessante und lehrreiche Zeit und ich bin sehr froh darüber, dass ich diese Erfahrung machen durfte. An dieser Stelle nochmals herzlichen Dank an ARRI für die großartige Unterstützung!

Wenn von Tonbildern die Rede ist, handelt es sich in der Regel um einen Film, dessen Tonspur auf einer separaten Schallplatte gespeichert ist. Wie genau verliefen die Nachforschungen zu den Tonbildern? Vielleicht können Sie dazu ein Fallbeispiel beschreiben. Wussten Sie von Beginn an, welche Filme im Archiv Tonbilder waren, oder hat sich das auch durch Zufall ergeben?

Die Recherche in den Datenbanken der SDK begann unter Verwendung des Suchbegriffs „Tonbild“. Hierbei hatten wir sofort zahlreiche Treffer. Wir gingen jedoch davon aus, dass nicht alle ehemals als Tonbilder hergestellten Filmkopien als solche erkannt und dementsprechend in die Datenbanken eingetragen wurden, vor allem wenn die Anfangs- und Endtitel nicht mehr vorhanden sind. Deshalb haben wir noch andere Suchkriterien verwendet, wie zum Beispiel die Spieldauer von 2 bis 3 Minuten und die Herstellungsjahre zwischen 1903 und 1914. Vor und nach dieser Zeit wurden in Deutschland keine Tonbilder hergestellt. In einem Fall war ein Film als „Fragment“ bezeichnet und die zu sehende Szene auf einem Kasernenhof beschrieben. Nach genauerem Betrachten der Kopie wurde aber relativ schnell klar, dass es sich um ein Tonbild handeln musste, da der Hauptakteur fast ununterbrochen spricht und keinerlei Zwischentitel vorhanden sind. Dieser Film konnte als ein vom Berliner Filmpionier Guido Seeber produziertes Tonbild identifiziert und rekonstruiert werden. Am Ende der Recherche waren insgesamt 25 Filmkopien als Tonbilder erkannt. Es kann aber durchaus sein, dass der eine oder andere Titel unentdeckt geblieben ist. Weitere Überraschungen sind also möglich.

Das Beispiel des an diesem Abend gezeigten Tonbildes MILITÄRISCHE DISZIPLIN/LUSTIGES AUF DEM KASERNENHOF der Deutschen Bioskop GmbH Berlin aus dem Jahr 1910 hat ja gezeigt, dass Film und Schallplatte nicht immer zusammen aufbewahrt wurden und einer der beiden Träger mit der Zeit verschwunden ist. Bei der Rekonstruktion ist es daher nicht immer möglich auf die „Original“ Schallplatte zurückzugreifen. Wie muss man sich die Situation der Archivierung – wenn man das so sagen kann – zur Zeit der Tonbilder vorstellen? Ich vermute, dass der Gedanke des Konservierens noch gar nicht oder noch nicht sehr ausgeprägt war. Frau Lewinsky hatte das in ihrer Einführung an dem Abend ja schon angemerkt.   

Es gibt nicht wirklich eine verlässliche Zahl, aber Schätzungen besagen, dass bis zu 90 Prozent der bis zum Ende der 1920er Jahre hergestellten Filme für immer verloren sind. Selbst wenn diese Zahl zu hoch angesetzt sein sollte, der allergrößte Teil der Filme aus jener Zeit existiert nicht mehr. Der Grund hierfür liegt unter anderem darin, dass bis in die 1930er Jahre mit wenigen Ausnahmen keine gezielte Archivierung von Filmkopien stattgefunden hat, es gab auch keine Filmarchive im heutigen Sinn. Filme waren bis dahin in erster Linie kommerzielles Gut, mit dem Produzenten und Kinobesitzer Geld verdienen wollten. Waren Filme nicht mehr aktuell oder die Filmkopien abgespielt, wurden diese in der Regel vernichtet. Vor allem Dank der Initiative einzelner Privatsammler und Filmliebhaber haben Filmkopien aus dieser Zeit überlebt. Ein Beispiel hierfür ist der Berliner Regisseur Gerhard Lamprecht, dessen Sammlung den Grundstock für die Gründung der Deutschen Kinemathek vor fast genau 50 Jahren bildete. Zu seiner Sammlung gehörten nicht nur Filmkopien, sondern auch filmbegleitende Materialien wie Stills und Werkfotografien, Poster, Drehbücher und weitere Produktionsmaterialien. Ohne diese Sammler, die sich teilweise auch auf illegalem Territorium bewegten, wären weit weniger Filme überliefert als dies ohnehin der Fall ist. Illegal, weil ihnen die Filmkopien oft nicht gehörten und sie diese trotzdem sammelten. Was die Platten der Tonbilder angeht, konnten wir die meisten Aufnahmen nur mit Hilfe von gut vernetzten Sammlern lokalisieren. Ganz wenige dieser Platten fanden ihren Weg in die Filmarchive, in denen die dazugehörenden Filmkopien aufbewahrt werden. Das macht das Wiederfinden schwierig. Wie wir aber sehen können, ist es mit vereinten Kräften möglich, die Einheit von Bild und Ton wiederherzustellen.

Bei den gezeigten Beispielen handelte es sich um die Verfilmung von einzelnen Revueszenen oder einzelnen Opernarien. Beschränkten sich die Tonbilder nur darauf, oder gab es auch andere Themen, die verfilmt wurden? Es wäre sicherlich möglich gewesen auch andere Inhalte zu verfilmen und dabei den Ton auf einer Schallplatte zu speichern.

Neben Opern- und Operettenarien, Schlagern und Revueszenen wurden auch einige gesprochene Sketche verfilmt. Aufgrund des in den meisten Fällen angewendeten Playback-Verfahrens waren „gesprochene“ Tonbilder jedoch schwieriger herzustellen und erscheinen aus heutiger Sicht weniger gelungen. Es war für die Schauspieler einfacher im Rhythmus eines gesungenen Liedes einen Text synchron wiederzugeben als dies mit gesprochenem Text der Fall ist. Von anderen verfilmten Themen ist mir nichts bekannt, wobei ich mich aber gerne eines Besseren belehren lasse.

Aus filmhistorischer Sicht bilden die Tonbilder quasi eine der Zwischenstufen zwischen Stummfilm und Lichttonverfahren. Wie sahen die Dreharbeiten zu den Tonbildern eigentlich aus?

Nach meinen Recherchen wurden die meisten deutschen Tonbilder in einem Playback-Verfahren aufgezeichnet. Eine bereits existierende Tonaufnahme wurde im Filmstudio auf einem Grammophon abgespielt. Die Darsteller sangen das Lied oder sprachen den Text vor einer passenden Kulisse nach und wurden dabei gefilmt. Dies geschah in der Regel mit einer unbewegten Kamera und ohne Schnitte, die Aufnahme wurde in einem Take durchgeführt. Eine simultane Aufnahme von Bild und Ton im Studio oder im Freien war aufgrund der damals verfügbaren Tonaufnahmetechnologie nicht möglich. So haben wir bisher zum Beispiel noch keine Reden von Politikern oder anderen berühmten Persönlichkeiten gefunden, die auf Tonbildern festgehalten wurden.

Aufgrund der komplizierten Anordnung war das Verfahren zweifelsohne wenig praktisch, gerade bei der Projektion. Wie muss man sich eine Vorführung der Tonbilder zu dieser Zeit vorstellen?

Es existierten speziell entwickelte Vorführgeräte für Tonbilder, wie zum Beispiel das Biophon-System des Berliner Filmpioniers- und –produzenten Oskar Messter. Hierbei wurde ein 35mm-Filmprojektor über ein elektromagnetisches Spulensystem mit dem Grammophon verbunden. Dieses Spulensystem hatte die Aufgabe, die Laufgeschwindigkeiten beider Geräte während der Vorführung auf einem Level zu halten. Der Vorführer musste den Film und die Platte von vorgegebenen Synchronisierungsmarkierungen starten und wenn es keine technischen Probleme gab, liefen Bild und Ton in der Regel synchron ab. Neben technischen Unvorhersehbarkeiten wie zum Beispiel Drehzahlschwankungen, konnten aber auch reparierte Filmrisse mit verloren gegangenen Einzelbildern oder Sprünge in der Schallplatte dafür sorgen, dass Bild und Ton asynchron wurden. Hier konnte ein aufmerksamer und versierter Filmvorführer gegensteuern, indem er die Geschwindigkeit des Filmprojektors kurzzeitig beschleunigte oder reduzierte, bis die Synchronität wieder hergestellt war. Jede Tonbildvorführung barg somit ein gewisses Überraschungspotential.

Wir haben an diesem Abend nur deutsche Produktionen gesehen. Wie sah die Produktionslandschaft im damaligen Deutschland aus und wie lange dauerte die Ära der Tonbilder?

Nach Angaben von Oskar Messter wurden zwischen 1903 und 1914 circa 1500 Tonbilder in Deutschland produziert, rund 500 davon von Messter’s Projektion GmbH. Weitere Tonbilder wurden von der Deutsche Mutoskop und Biograph GmbH, Duske’s Kinematographen- und Film-Fabriken GmbH, Deutsche Bioscop GmbH und der Internationalen Kinematograph- und Lichtbildgesellschaft hergestellt, die sich allesamt in Berlin befanden. Diese Firmen teilten sich den Markt auf. Oskar Messter schloss zum Beispiel exklusive Verträge mit Kinobesitzern ab, die dann aber nur seine Biophon-Tonbilder zeigen durften. Andererseits garantierte er ihnen, dass im näheren Umfeld kein weiteres Kino Biophon-Tonbilder zeigen durfte. So sicherte sich Messter einen relativ konstanten Absatzmarkt.

War dieses frühe Tonfilmverfahrens auch im Rest von Europa verbreitet, oder gar auch schon in den Vereinigten Staaten?

Biophon-Tonbilder waren zumindest in Skandinavien und Österreich verbreitet und liefen dort mehrere Jahre erfolgreich. Oskar Messter versuchte auch in den USA Fuß zu fassen. So produzierte er einige englischsprachige Tonbilder mit beliebten amerikanischen Liedern wie „Yankee Doodle“ oder „The Whistling Bowery Boy“ und präsentierte diese im Rahmen der Weltausstellung von St. Louis im Jahr 1904. Obwohl die Besucherresonanz laut Berichten aus jener Zeit gut gewesen zu sein scheint, kam es zu keiner weiteren Verbreitung des Systems dort. In Frankreich entwickelte Gaumont sein ähnlich funktionierendes Phonoscène-System und beherrschte damit den dortigen Tonbild-Markt. Im Übrigen gibt es dort im Moment ebenfalls Anstrengungen zur Rekonstruktion von Tonbildern. Einige Phonoscènes wurden vor kurzem zusammen mit den Tonbildern der Deutschen Kinemathek im Rahmen eines Filmfestivals an der Cinémathèque Française aufgeführt. Es ist also nicht unrealistisch zu hoffen, dass in Zukunft noch weitere Tonbilder wieder das Licht eines Filmprojektors erblicken werden!

Herr Förstner, vielen Dank für das Interview!

 

Zur Person:
Dirk Förstner begann seine Ausbildung zum Restaurator in Florenz, wo er sich auf die Restaurierung von Fresken und Ölgemälden spezialisierte. Zurück in Berlin wandte er sich dem audiovisuellen und fotografischen Kulturgut zu. An der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Berlin absolvierte er das Masterstudium „Konservierung und Restaurierung“, welches er im September 2012 mit seiner Arbeit zu den „Möglichkeiten des Digital Intermediate Prozesses in der Filmrestaurierung am Beispiel von Tonbildern“ abschloss. Seit Dezember 2010 arbeitet Dirk Förstner für die Deutsche Kinemathek in Berlin, wo er unter anderem für die Kopienkoordination der Sektionen Retrospektive und Hommage in Zusammenarbeit mit den Internationalen Filmfestspiele Berlin verantwortlich ist.