Die wohl interessanteste Eigenschaft von verschollenen Filmen ist nicht zwangsläufig die Tatsache, dass sie verloren gegangen sind und sie vielleicht auch nie mehr auftauchen werden – was auf verschiedenen Gründen natürlich auch oft der Fall ist -, sondern vielmehr, dass sie in vielen Fällen immer noch in irgend einem Archiv auf dieser Welt schlummern, jedoch niemand mehr von ihrer Existenz weiß und somit dem Vergessen preisgegeben sind. Genau darauf will der UNESCO World Day for Audiovisual Heritage aufmerksam machen und wird somit jährlich am 27. Oktober begangen. Anlässlich dieses Tages lud die Deutsche Kinemathek in Berlin zu einem kostenlosen Kurzfilmprogramm ein, dass von Mariann Lewinsky (Filmhistorikerin und Kuratorin der Sektion „Cento anni fa“ des Festivals „Il Cinema Ritrovato“ in Bologna) und Dirk Förstner (Deutsche Kinemathek) vorgestellt wurde.
Wie Mariann Lewinsky anmerkte, ist zu beachten, dass die Filme gerade aus der Frühzeit des Kinos, für den Moment gemacht wurden und die Macher oft nicht daran gedacht haben, diese auch für folgende Generationen aufzubewahren. Das heutige Verständnis, Filme in einer Art Archiv aufzubewahren, war noch nicht vorhanden. So ließ es sich auch nicht vermeiden, dass viele der Filme wieder vernichtet wurden und somit nie mehr zu sehen sein werden. Zugleich bieten solche Events, trotz aller Bemühungen, die Gegebenheiten genau zu rekonstruieren, auch Einblick in ein Kinoerlebnis, das aus heutiger Sicht teils befremdlich und ungewohnt erscheint. Dies findet sich nicht nur in der medialen Anordnung von solchen Vorführungen wieder, sondern auch in den Sujets selbst. In beiderlei Hinsicht bot das Programm des Abends eine interessante Bandbreite.
Neben Stummfilmkomödien wie ROSALIE DANSEUSE (Regie: Roméo Bosetti / F 1912) mit der bekannten französischen Filmkomikerin Sarah Duhamel, bot das Programm auch Filme wie DER SCHÖNSTE PARK VON PARIS: JARDIN DU LUXEMBOURG der Firma Pathé aus dem Jahr 1912, der in handkolorierten Bildern wie eine kinematographische Postkarte, Einblick in das Treiben und auf die Bauten und Denkmäler im Jardin du Luxembourg in Paris gibt.
Besonders interessant war der Film CHEVEUX ET CHICHIS aus dem Jahr 1911, bei dem es sich um eine Art von frühem Industriefilm handelt: gezeigt wurde die Herstellung von Echthaarperücken. Der Film bebildert die einzelnen Schritte vom Abschneiden der Haare über die einzelnen Schritte der Bearbeitung bis hin zum Anpassen der Perücke. Dabei nutze der Film interessanter Weise nicht nur die übliche Frontalansicht, sondern auch Nahaufnahmen einzelner Vorgänge.
Der zweite Teil des Programms beinhaltete zwei Filme des französischen Komikers Max Linder. Neben dem Film MAX AMOUREUX DE LA TEINTURIÈRE (1912), zeigten die Veranstalter auch MAX INSZENIERT EINEN FILM von 1910, in dem Max Linder einem befreundeten Ehepaar zu einer Rolle in einem seiner Filme verhilft, und in dem er selbst auch als eifersüchtiger Ehemann mitspielt. Die Proben zu der Filmszene geraten jedoch außer Kontrolle, weil Max in seiner Rolle aufgeht und in einem Anfall von (gespielter) Eifersucht das Set verwüstet. Das wohl interessanteste an diesem Film, ist der kurze Einblick in die damaligen Methoden des Filmdrehs, der eine gewisse Selbstreflexivität über das eigene Medium und – in Anbetracht des Ausgangs der Geschichte -Selbstironie zeigt.
Die verschiedenen Filme offenbarten auch ein Detail über die Frühzeit des Films, das zwar in filmhistorischen Kreisen bekannt ist, jedoch im Allgemeinen vergessen wird oder dessen sich die breite Masse gar nicht bewusst ist: schon lange vor DVD, VHS und ähnlichen Formaten, gab es im sprichwörtlichen Sinne das Heimkino. So bot das Heimkinosystem Pathé Kok von Charles Pathé, dem (ohne Zweifel) wohlhabenden Zuschauer die Möglichkeit, verschiedene Filme in den eigenen vier Wänden zu genießen. Das auf 28 mm reduzierte Filmrepertoire beinhaltete neben didaktischen Filmen, Tierfilme (wie der hier gezeigte Film LA GENETTE) und Krimis, auch Romanverfilmungen wie z.B. das komplette Buch „Der Graf von Monte Cristo“.
Das wohl interessanteste Highlight des Abends war jedoch die deutsche Erstaufführung der Tonbilder, die im Rahmen eines Projektes zwischen Deutsche Kinemathek, der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW Berlin) und der Firma ARRI Film & TV Services restauriert wurden, und die aus filmhistorischer Sicht eine Vorstufe zum Tonfilm bzw. genauer zum Lichttonverfahren darstellen.
Die Tonbilder bestanden aus einem Film und einer Grammophonplatte, wobei die vorher besprochene oder oft auch mit Revue- oder Opernliedern besungene Platte als Ausgangsbasis diente. Die dazugehörige Szene wurde für den Film im „Playbackverfahren“ aufgenommen oder genauer gesagt nachgespielt: die Schauspieler mussten somit die Texte nachsingen oder zumindest die Mundbewegungen nachahmen und agierten entsprechend der Musik. Das Problem, dass sich im Nachhinein bei der Projektion bot, war, dass im Gegensatz zum späteren Lichttonverfahren, in dem Ton und Bild auf dem gleichen Filmstreifen sind, Platte und Film parallel und synchron laufen mussten. Riss der Film an einer Stelle, war es zwar einfach den Streifen wieder zu kleben, jedoch war damit die Synchronität zwischen Bild und Ton nicht mehr gewährleistet.
Ein weiteres Problem aus heutiger Sicht ist die Tatsache, dass die Filme und die dazugehörigen Platten nicht zusammen aufbewahrt wurden. So landeten die Filme in den Archiven und wurden vermutlich als einfache Stummfilme behandelt, während die Platten, als eigenständige Werke, oft anderswo gelagert wurden. Das Problem zeigte sich am Beispiel des vorgeführten Tonbildes MILITÄRISCHE DISZIPLIN/LUSTIGES AUF DEM KASERNENHOF der Deutschen Bioskop GmbH Berlin aus dem Jahr 1910: im vorliegenden Fall war es so, dass für die Restaurierung zwar Film und Platte vorlagen, letztere jedoch nicht die identische Version des Liedes oder Textes war, die für Herstellung des Films im Jahr 1910 benutzt wurde. Das Resultat war, dass im Film an einigen Stellen sichtbar ein Text „gesprochen“ wurde, der jedoch nicht auf der vorliegenden Platte vorhanden war.
Dass dieses spannende Projekt aufgrund der Problematik der Aufbewahrung noch am Anfang steht, zeigte besonders der Fall der Verfilmung des Babyliedes aus der Metropol-Revue „Ein tolles Jahr“ mit Henry Bender aus dem Jahr 1904, von der Messter’s Projektion GmbH Berlin: die Schallplatte zu diesem Film wurde noch nicht gefunden und schlummert noch, wie Projektkoordinator Dirk Förstner anmerkte, in einem Archiv oder gar auf einem Flohmarkt und wartet auf ihre Entdeckung.