Der Film ist nicht sein Plot. Ganz und gar nicht. Selbst, wenn man ihn zu fassen bekäme. Worum geht es in L´EAU FROIDE (Fr, 1994)? Um die Probleme des Jugendlich-Seins Anfang der 70er Jahre? Um die Nach-´68er-Lost-Generation, denen man nichts mehr zum Rebellieren übrig gelassen hat? Nun, warum nicht, soll es mal als These so stehen bleiben. Olivier Assayas „zweiter Erstlingsfilm“ wie er im Gespräch nach dem Film im arsenal meinte, stehe für ihn gewissermaßen exponiert in seiner Biografie. Nicht allein, weil es sein erster internationaler Erfolg war, sondern weil er hier zu einer Haltung des Filmemachens gefunden habe, die es ihm ermögliche leicht, improvisierend mit kleinem Team und Laiendarstellern zu arbeiten. Seine Methode: Intuition, biografische Bezüge einflechtend (das ungarische Kindermädchen, der kleine Bruder, Allen Ginsberg-Gedicht, Musik), Schauspieler in ihrer Improvisation unterstützend, ohne Storyboard arbeitend.
Gilles (Cyprien Fouquet) und Christine (Virginie Ledoyen) klauen aus dem Kaufhaus Rockmusik-Vinyls. Christine wird erwischt, von der Polizei dem Vater übergeben, der sie wiederholt in die Nervenklinik bringt. Sie flüchtet. Gilles gerät mit dem biederen Literaturlehrer in Konflikt („Rousseau rockt nicht“), wird dem Unterricht verwiesen, von seinem Vater bekommt er verkündet, dass er auf eine andere Schule versetzt werden wird. Er hat Sprengstoff gekauft, der kleine Bruder hält Probe. Er trifft Christine auf einer Party wieder, sie bringt ihn dazu mit ihr zusammen zu fliehen – in ein Künstlerdorf ohne Strom und warmes Wasser.
Es kommt dabei ganz Erstaunliches zu Tage und diese Metaphorik des Lichts scheint einem Film angemessen zu sein, deren Protagonisten ja vor allem im Schatten, in der Dunkelheit enger Räume, in der Nacht tanzend, von Waren, Gegenständen, Wänden, Fensterrahmen verstellt, gerahmt, verschlungen, verdeckt, verschleiert zu sein scheinen. Oder die Kamera ist so nah, dass das suchende Abtasten durch die Nähe zur Porigkeit der Haut einerseits etwas zu erbeuten scheint, andererseits gar fast wieder etwas zu verdecken droht. Die Stimmungen entgleiten immer wieder, in dem Moment, in denen man meint, sie im Erscheinen erhascht zu haben. Seien es die eigenen Jugenderinnerungen, die überraschend unaufdringlich wachgerufen werden, seien es die Momente der Begegnung zweier Personen. Ihre soziale Interaktion wirken eher testend, forschend abgetastet als bewusst gesetzt. Das Fluide der Kamera (Assayas selber benutzt diesen Begriff) in den sehr langen (gefühlte Minuten) Plansequenzen entreißt den 1994er Zeitfragmenten rekonstruierte Stimmungen der 1972er Jahre. Vor allem die stimmungsschwankende Party in den ruinös-pittoresken Vorstadt-Villen zelebriert dieses Zeitschichtenspiel durch die Architektur. Abgeflatterter Putz, rau-rissige Tapeten, zersprungene Fensterscheiben und eine bis in totale Schwärze hineinreichende Dunkelheit der eingenachteten Wände verbinden sich mit der Geste des Herumreichens eines zu filmhistorischer Größe proportionierten Joints. Diese Geste erreicht aber nie die Leichtigkeit einer sich selbst feiernden Hippie-Generation, sondern glimmt immer schon unter dem Fragezeichen des gemeinschaftsstiftenden Happenings eines bürgerlich-möblierten Scheiterhaufens: „Was machen und sollen wir eigentlich?“ Bei einem Gespräch zwischen Gilles und der Mutter (Dominique Faysse) von Christine, bringt Gilles zwar zur Sprache, dass Christine (und damit nicht nur sie und er selbst, sondern auch seine Generation) mehr Aufmerksamkeit benötige, aber dies als eine Einladung zu einer psychologisierenden Lesart zu verstehen, hieße die Handlungen der Jugendlichen und ihren Licht-Entzugs-Exzess in jene Logik zu pressen, deren sie sich gerade zu entziehen scheinen. In dem umarmungsreichen Tanz kehrt eine Variante des ortlosen `Zabriskie-Points´ wieder, der allerdings viel stärker den Krieg um das Licht als Zurückgezogenheit eines Solokampfes – oder eher eines kampflosen Solos? – zeigt, auf das Ernüchterung bei der morgendlichen Notdurft im grau-blauen Morgennebel folgt.
Hier ist ein Youtube-Ausschnitt des Films, in der die Kamerabewegung, das Feuer und die Nähe der Kamera ganz gut hervortreten. Die Musik in diesem Clip ist NICHT aus dem Film.
Assayas bringt hier ein Generationenporträt, das nichts von einer Utopie oder Dystopie erzählt, sondern von einer orientierungslosen Leerstelle des Sinns, dessen weißes Papier am Ende als Geste des (Lebens-)Abschieds all die verzweifelten Versuche in einer Variante schweigend zur Sprache zu bringen scheint, die zuvor schon durch Allen Ginsberg, Leonard Cohen, Bob Dylan, Nico u.a. musikalisch oder poetisch zum Ausdruck gebracht worden waren (der Soundtrack zum Film ist hier). Das Weiße am Wasser erinnert an die letzte Szene in Robert Bressons „Mouchette“. Mouchette, die sich halb zielgerichtet, halb spielerisch ins Wasser rollt. Dass dieser Leichtsinn eher existenziell als „leicht“ ist, zeigt die schockartige Szene, in der Gilles seinem kleinen Bruder die angezündete Dynamitstange in die Hand gibt und gerade noch die Zündschnur entwendet.
Die Kamera verhält sich in L´EAU FROIDE paradox: einerseits verortet sie die Protagonisten fest im Raum, indem sie die Personen wie Gefangene rahmt, wie im Kaufhaus zu Beginn oder auch die Verhörszene im Polizeipräsidium zwischen Christine und dem Inspektor (Jean-Pierre Darroussin), in der die verglasten Wände und Türen immer wieder mal als Hindernis, mal als Rahmung Christine zum verschwinden bringen. Andererseits entkleidet sie die Gesichter und zeigt sie bis zur Blöße ihrer Haut nackt ohne sie aber ganz verstehen, sie sich ganz aneignen zu können. Die Nähe der Kamera zu ihren Darstellern streichelt sie mit einem zärtlichen Auge, das tastend und suchend in einen Sog gezogen wird, dem auch Gilles erliegt. Vielleicht ist jener verlorene Wahnsinn Christines eine Art Fluchtpunkt im buchstäblichen und metaphorischen Sinne. Er ist eine Art dramatische Leerstelle, die den Film aus dem Growing-Up-Milieu in einen Roadmovie dynamisiert und rhythmisiert. Die provisorischen Heimstätten scheinen hierbei das architektonische Pendant zum Rhythmus einer Poetik des Films zu bilden. Ausgehend von der bürgerlichen Wohnung, in eine dekadent-bürgerliche Villen-Identität mündend, landet sie schließlich in einer höhlenartigen Urwohnstätte – ohne warmes Wasser, ohne Strom. Il fait froid.
Eine Bemerkung noch zu Virginie Ledoyen:
Gewissermaßen bringt sie mit ihrem Körper eine verführerisch destruktive Komponente hinein, die nicht die typische Figur der `femme fatale´ ist, eben weil sie nicht um ihre Erotik weiß. Ihre ins Gesicht fallenden Haare, die sie radikal durch das eigene Abschneiden noch einmal explizit hervortreten lässt. Dies bringt sie in jene Entrücktheit, die immer auch mit einem Sog verbunden ist – der entrückte, versteckte Blick, der herauslugt; ihre Bundeswehr-Jacke, die von einer Bereitschaft zur Militarisierung zeugt, wenn auch mit unbekanntem Zweck (die Ambivalenz 1972 eine deutsche Armeejacke zu tragen, eine (Szene-)Mode, die auch noch Ende der ´90er Jahre beobachten werden konnte). Eine ungezähmte, sinnfreie Aggressivität, die raue Oberfläche des Films und ihre obszöne Sprache, an der sie selbst gefallen findet (das Verhör – in der sie eine Vergewaltigung beim Sprechen fingiert) und die alle ihrer Androgynität zuspielen.
Ihr eiskalter, quasi stählern-straffer und zugleich zarter entblößter Körper am Ende: Eises Kälte und Körperwärme in eins gesetzt.