Dass vermeintlich einfache Formen kein Garant für banale Themen sind hat die Volko Kamensky Werkschau im arsenal eindrücklich gezeigt. Der Ankündigungstext des arsenals ist ganz aufschlussreich, wenn es um den Versuch geht Kamenskys Werk, das bisher aus eben jenen drei Filmen besteht, knapp diskursiv zu bestimmen:
„In seiner Dokumentarfilm-Trilogie widmet sich der Hamburger Filmemacher Volko Kamensky (*1972) formal eigensinnig der Entstehung von Mythen, den Ausmalungen der Vorstellungskraft und Stereotypen des kollektiven Gedächtnisses. Vor allem das Spannungsverhältnis von Bild und Ton zeichnet seine Arbeiten aus.DIVINA OBSESIÓN (1999) zeigt in 360-Grad-Fahrten Kreisverkehre in Frankreich und deren Mittelinseln, dazu sind Off-Interviews mit Verkehrs-Experten zu hören. Eine Serie von Bränden, die das Heimatmuseum in Rotenburg an der Wümme ereilte und Fragen nach Heimat, Geschichte und deren Schreibung stehen im Zentrum von ALLES WAS WIR HABEN (2004). Während in ORAL HISTORY (2009) Frauenstimmen aus dem Off von Natur und Gemeinschaft erzählen, zeigen langsame Kamerafahrten ein märchenhaftes Haus am Waldrand. Der Zusammenhang bleibt bis zuletzt ungewiss.“ (Ankündigungstext des arsenals)
Was bereits fraglich erscheint, ist die Etikettierung als Trilogie (die dann eine über 10jährige planerisch angelegte Konzeption wäre). Die genannte Bild-Ton-Spannung ist ohne Zweifel charakteristisch für alle Filme Kamenkys, doch inwiefern werden hier Bild und Ton in ein Verhältnis gesetzt und welche Rolle spielen hierbei die „Off-Interviews“? Die Aufgabe den Filmen diskursiv Herr zu werden muss schon deshalb scheitern, weil gerade durch die Einfachheit der angestimmten filmischen Parameter der Assoziations- und Relationsraum aufgerissen wird und einen Horizont freilegt, der sich in der Annäherung einer Beschreibung wiederum weiter verschiebt. Es liegt also die Aufgabe in einer methodisch offenen Begriffsarbeit an jenen sich verschiebenden Bedeutungshorizonten. Zunächst einmal werde ich versuchen in einem sukzessiven Durchlauf, Sujets anklingen zu lassen, von denen ich meine, dass sie im Sinne eines Zugangs zum Oeuvre ‚relevant‘ sind.
DIVINA OBSESIÓN nimmt einen alltäglichen Gegenstand unserer Kulturlandschaft zum Anlass eines investigativen Unternehmens: die Suche nach dem Grund für die Präsenz zahlreicher Kreisverkehre in Frankreich. Formal-strukturell ist der Film zwar recht einfach gehalten, indem in Serie Kreisverkehre aus der Seitenperspektive des Autos umrundet und gefilmt und schließlich mit Interviews von Experten (ein ADAC-Redakteur, ein Professor für Verkehrswesen, ein Verkehrspsychologe) unterlegt werden. An einigen Stellen erklingen Stücke von Yma Sumac. Mit einer an eine Fluchtbewegung erinnernden Geste endet der Film in einer wüstenähnlichen Landschaft in der Nähe eines Atomkraftwerkes, wo eine grotesk langgezogene, hochproportionierte filigrane Stahlfigur die Mitte eines winzigen Kreisverkehrs schmückt und die Kamera ihr aus nächster Nähe bis in den Himmel folgt und die Sonne als weiß-gelbes Kreisrund geometrisch das wiederholt, was zugleich horizontal umfahren wird und wurde.
Ein apokalyptisches Szenario, das in seiner Landschaftsbezogenheit an ein Roadmovie denken lässt, in seinen teils staubig-menschenleeren Straßenzügen an einen Western und in seinem Ende vor allem an ein Science-fiction Szenario. Die synthetische Nachvertonung durch ein elektronisches Verfahren von vorbeifahrender Autos, Baustellen und Ähnlichem vernäht die vorfilmische Welt zu einem merkwürdig steril anmutenden, entrückten Bewusstseinsteppich, der ähnlich wie bei Jacques Tati auch komische Züge trägt.
In einer paradoxen Umkreisung des Sujets, wird der ortlose Ort mythologisiert. Einerseits bezeichnet der Kreisverkehr gerade einen Transitort, dessen Ideal wäre, sich selbst zum Verschwinden zu bringen (an einer Stelle erwähnt ein Experte, dass der Fahrer im Kreisverkehr ja nur in eine Richtung zu blicken brauche, was entspannend sei. So würde er von dem Stress einer Kreuzung entlastet und könne den Verkehrsfluss besser genießen als an einer Ampel zu stehen) und andererseits solle er durch schmückende Kunst die Identität eines Ortes fundieren. In der sich variierend, wiederholenden Kreisbewegung der Kamera kehrt jene rationalistische Präzision wieder, die durchaus auch klaustrophobischen oder zumindest zwanghaften Charakter hat. Durch den Blick nach innen, durch das Kreisen ums Zentrum, fixiert sich der Blick auf eine Evidenz, die ewig zu sein scheint. Eine unentrinnbare Zeitlichkeit, deren Blick in die Gegenwart als Ewigkeit auch ein Blick in eine ewig währende Gegenwart und damit in eine Zeit ohne Zukunft zu sein scheint. Diesem Schrecken entweicht die Kamera durch eine Fluchtschwenkbewegung am Ende nach oben um dort nur jene Form wiederzufinden, die zuvor befahren wurde. Dieser Schrecken wird verstärkt durch die Interviews: es ist noch nicht einmal dieses Geisterhafte, das Stimmen, aus dem OFF anhaftet – zumal hier durch das Telefon technisch verzerrte.
Es ist hier vielmehr die absurd anmutende monologisierende Experten-Rede. Unter dem zweckorientierten Argument des Humanen Verkehrstote zu reduzieren und den Autofahrern die Orientierung zu erleichtern geraten die Monologe selbst aber merkwürdig ahuman. Da werden ganze anthropologische Konzepte entworfen, wenn es heißt, dass Menschen so einfach wie möglich in ihrer Bahn gehalten werden wollen und so wenig Entscheidungen wie nur möglich treffen möchten. Frankreich habe durch seine zentralistische Organisationsform und durch die pragmatisch-aktionistische Statistikversessenheit der örtlichen Parteien jeglicher Couleur in einem Hau-Ruck-Verfahren an mehreren tausend Standorten Kreuzungen zu Kreisverkehren gestaltet. Wo hier die Obsession genau angelegt ist, bleibt vieldeutig. So hat es ja auch etwas Obsessives diese Kreisverkehre aufzusuchen, zu umfahren und dabei zu filmen und eine Art filmischen Katalog zu Kreisverkehren anzulegen. Der Autor adressiert zwar klar ein Interesse, evoziert aber durch die Prozessualität des Werks ein Auseinanderklaffen der Wirkung. Obgleich recht klar zu sein scheint, worum es geht, fächert sich die Sujetlandschaft auf. Dennoch ist denn dieser früheste Film auch derjenige, der am ehesten dem Paradigma von Autorität, Autorschaft und Authentizität verhaftet bleibt.
Das Heimatmuseum in Rotenburg an der Wümme hat ein etwas anderes Problem mit dem Ort: es wird von dem Ort immer wieder durch Brände heimgesucht und ist durch die wechselnden Standorte innerhalb der Stadt merkwürdig unbeheimatet. Paradoxerweise wird dadurch das Heimatmuseum selbst Träger jener Heimatgeschichte, da es einerseits von Flächenbränden, andererseits aber auch durch Brandstiftung gezeichnet ist. Prüfend blickt die Kamera vom Zentrum aus in die Spuren einer vermuteten Vergangenheit: Parkplätze, vor geschichtsträchtigen Häusern, auf dem Marktplatz, in Straßenzügen des Ortes, eine Nervenklinik, die alle durch die Interviewmontage in ein Verhältnis zu den erzählten Geschichten treten.
Auch hier tritt wieder in einer Variante die Frage nach menschlicher Fürsorge auf: ein Vater, der sich intensiv um die Aktivitäten des Heimatmuseums verdient gemacht habe, so die ehemalige Leiterin des Heimatmuseums, habe zugleich seine Tochter vernachlässigt, die in einem rebellischen Akt gegen den Vater gleich zwei Mal das Heimatmuseum innerhalb von zwei Jahren anzündete. Das Haus wird dadurch zu einem apokalyptischen Ort eines familiären Dramas, dessen Horror in der Wiederkehr des immer gleichen Schicksals liegt und mittlerweile als drohendes Damoklesschwert über dem Hause hängt. Es scheint geradezu so, als ob die Erinnerung an die Heimat durch eine höhere Macht zur Auslöschung bestimmt sei. In diesem Sinne variiert sich hier der obsessiv, klaustrophobische Zug am Thema einer Heimat, deren Erinnerung einerseits wiederstand leistet, andererseits durch die Gewalttat des Vergessens, das in den Flammen aufging, umso stärker als Zerstörtes, Verlorenes erinnert bleibt. Das Heimatmuseum bewahrt daher vor allem den Schmerz um den Verlust von Vergangenem. ALLES WAS WIR HABEN erzählt von einem nostalgisches Objekt, das durch dessen Eigenleben zugleich mythisch wird. Obgleich auch hier die Interviewmontage das primäre informationsgebende Verfahren darstellt, weisen die Aussagen der Interviewpartner den Orten viel stärker als in DIVINA OBSESIÓN eine Charakteristik und Historie zu. Dies rückt das Verhältnis von jenen Personen und Orten in den Fokus. Suggeriert wird ein Blick, der sich in die Vergangenheit vertieft. Die Oberflächen des Buschigen, Waldigen, Bäuerlichen, Erdigen, Fachwerkhäuslichen, der kleinstädtisch-westdeutschen Klinkerfassaden aus den 1970er/80er Jahren – all das wird aus der Gegenwart tastend fixiert und geprüft. Was sagen die heutigen Orte über das Damalige?
Märchenhaft an einem Waldrand gelegen umwandert die Kamera ein zweistöckiges, verlassenes Haus. Es ist Teil eines kleinen Dorfes, das menschenverlassen von der Natur langsam wieder erobert wird. An einigen Stellen sind ruinöse Gerippe von kleinen gemauerten Bögen und Wänden zu sehen, die bereits zugewuchert sind. Im Unterschied zu den beiden früheren Filmen verfolgt die Kamera in ORAL HISTORY keine strenge geometrische Linie mehr. Die Kreisbewegungen sind segmenthaft, was mit der Lage des Hauses zwischen Felsen und Wald zusammenhängen mag, sodass eine 360° Fahrt praktisch unmöglich ist. Es ist aber auch auf ein grundlegend anderes Konzept hin angelegt, Fragmente von Bild und Ton miteinander in Kontakt zu bringen. Die Prozessualität im Ton des ersten Werkes wird hier zum zentralen poetischen Ansatz, der erst im Abspann preis gegeben wird. Die Synthetisierung und Entrücktheit wird zum dramaturgischen Prinzip: drei ältere Frauen, die für Hot-Lines arbeiten, wurden gebeten eine Kindheitserinnerung an ein Haus am Waldrand zu fingieren.
Statt erotisch-sexueller Stimmenresonanzdienstleistung also eine Geschichte aus Omas Kindheit und Heimat. Wieder geraten soziale Interaktion und familiäre Nähe in ein Spannungsverhältnis (im Gespräch nach den Filmen berichtete Volko Kamensky, dass alle drei Frauen etwa nach zehn Minuten versichernd nachfragten, ob er das hören wolle, was sie da sagten). Das Soziale äußert sich als monetär abgeglichene Dienstleistung in einer technisch vermittelten Distanznähe durch das Telefon. So geraten die Stimmen sogar in ihrem Erzählduktus erschreckend nahe aneinander, was nicht nur die Identität der Frauen erschwert, sondern auch deren individuelle, fingierte Erinnerung. Was in den Essayfilmen von Chris.Marker oder in DIAL H-I-S-T-O-R-Y von Johan Grimonprez sehr explizit thematisiert wird, findet sich auch in einigen Hollywood-Filmen wie BLADE RUNNER, MATRIX, A.I. oder jüngst in SOURCE CODE als Drama implantierter Erinnerung wieder. In Oral history gerät Erinnerung in seinem implizit dokumentarischen (oder eben performativen) Stil zu einer Adressierung der eigenen Kindheitserinnerungen oder Wünsche der Zuschauer. Das Dorf, insbesondere aber das Waldhaus werden verzaubert, mythisch aufgeladen (ohne selbst mythisch zu sein oder mythologisiert zu werden). Der Ort wird nun gänzlich ein filmischer Ort: die vorfilmische Welt hat sich in einen grimmschen Topos gewandelt, der kinematographisch befragt wird. Durch die fingierende Methodik verschiebt sich die Nostalgie eher auf den Zuschauer: er wird nicht nur mit dem Waldrandidyll konfrontiert, sondern auch mit jenem Psychodrama einer als xenophob skizzierten Gemeinschaft, die die Waldeinsamkeit der größeren gesellschaftlichen Einbettung bevorzugt.
Mir scheint, dass gerade jene performativ erscheinenden oder erklingenden Momente eine besondere Stärke der drei Werke ausmachen und etwas in den Fokus rückt, was ich als `das Soziale´ bezeichnen würde. Seien es die emphatischen Stimmen der Kreisverkehr-Experten, die über ihren Gegenstand wie über ihr eigenes Kind sprechen (und es zudem mit der Intention eines Bildbands über „Kunst im Kreisverkehr“ fetischisieren), oder die Geschichte des vernachlässigten Mädchens, dessen Vater sich lieber um das Heimatmuseum kümmerte, oder wie zuletzt die monetäre Geschichtsdienstleistung.
Sicher könnte man auch das Verhältnis von Architektur bzw. Städtebau und Personen in den Fokus rücken, Film und Geschichte, Interviewtechnik und erzählte Geschichten, Erinnerung, Heimat und Mythos in Verbindung bringen mit dem Klaustrophobisch-obsessiven, aber mir scheint, dass all diese Themen im Grunde einem Verfahren dienen, das sich im Werk durchzieht und klimatisch entwickelt. Das Natürliche wird eingewoben durch eine betont künstliche Imitation und Reproduktion. Dadurch gerät der Film in einen grotesken Stil, durchzogen aber von einer schwebenden Müdigkeit. Einer Müdigkeit, die nichts mit Langeweile zu tun hat, sondern eher der Müdigkeit eines Detektivs mit kompliziertem Fall entspricht (Will Dormer alias Al Pacino in INSOMNIA oder J.J. Gittes alias Jack Nicholson in CHINATOWN) und von einem Bewusstseinszustand, einer Haltung, einer Arbeitsmethodik ausgeht, durch die etwas Schlummerndes durch abtastendes Suchen, Prüfen und Befragen wachgerufen wird.
Man muss es Volko Kamensky hoch anrechnen, dass er in der Assoziationsvielfalt durch die fast radikale Offenheit (so ganz radikal will es das konzeptionell angelegte Arbeitsprinzip ja auch nicht) der Form eine performative Dimension freilegt, die das `Unheimliche im Gewöhnlichen´ zutage bringt: das ahumane Sprechen über Kreisverkehre und deren fraglicher anthropologischer Sinn, der Schmerz über das Vergessen von Vergangenem, sowie die entindividualisierte Erinnerung, die auf eine xenophobe Konstitution von Gemeinschaft zielt. In dieser Blöße, die sich die Interviewten geben, liegt jene Ironie der ahumanen Technik, die dies „neutral“ aufzeichnet, und die selbst dann kaum spürbar wird, wenn sie der eigentliche Grund ist, weshalb das Publikum im Kinosaal, und nur dort, lacht oder zumindest schmunzelt.