Transformation der Psychosphäre

BERLINALE 2012: Forum Expanded

Die Spezialsektion der Agora zeitgenössischer Filmavantgarde fokussiert eine Veränderung der Wahrnehmung des Sozialen durch die großen Krisenthemen von Finanzwelt und Revolution. Pate kann hier sicherlich die Ausstellung I „Kritik und Klinik“ stehen, die in den Kunstsaelen Berlin zu sehen war.

Kritik und Klinik

Ausstellung I „Kritik und Klinik“ in den Kunstsaelen Berlin, Foto: fragmentfilm.

Anstelle durch Generalisierung nun grob fahrlässig spezifische Ästhetiken unter eine These zu subsumieren, interessiert hier die Skizze einer kuratorischen Linie, die Ausstellung, Panels und Filme kohärent erscheinen lässt. Meine These wäre demnach weniger bezogen auf eine Spezifik der Ästhetik, als vielmehr auf eine Perspektive: die vor allem neoliberale Marktlogik produziert neben den materiellen Gütern quasi als performatives Beiprodukt Wahrnehmungs- und Wunschnormen. Wenn demnach die libidinöse Ökonomie des Menschen nach einer neoliberalen Logik strukturiert ist, wie entsteht dann die Möglichkeit jenseits der konditionierten und kontrollierten Normierung, andere soziale und ästhetische Formen sichtbar zu machen? Gibt es ein Außerhalb des allgegenwärtigen Krisenzustandes? Nebenbei lösen die Filme auch das Terrorjahrzehnt als Dominante ab und suchen ein neues nicht nur sprachliches Vokabular.

Vielleicht ließe sich der etwas unscheinbare Film BAROMETER (I) (BRD, 2011) von Heike Baranowsky zunächst exemplarisch nehmen für eine technisch gepushte Körperkonditionierung, wie sie analog auch auf die Wahrnehmungsmodi und Libido zutrifft. Zur Leistungssteigerung von Spitzensportlern in der ehemaligen DDR wurden Druckkammern gebaut, mit denen sich unterschiedliche Luftdrucksituationen, wie z.B. im Hochgebirge simulieren ließen. Dies wird durch auf- und absteigende weiße Wetterballons sichtbar gemacht. Hier also wurde die gesteigerte Körperfunktion als Waffe der Außenpolitik für einen Wettkampf der Systeme abgerichtet. Handelt es sich physikalisch betrachtet lediglich um die Sichtbarmachung von pneumatischen Differenzen, entspricht dem auf ästhetischer Ebene eine technologische Biopolitik. Insofern steht der Sozialismus dem westlichen Modell eines elitären Leistungsethos in nichts nach.

Der Psychoanalytiker Robert D. Laing in ALL DEVIDED SELVES, R.: Luke Fowler, GB, 2011.

Der Beitrag von Luke Fowler ALL DIVIDED SELVES (GB, 2011) rückt nun in der Manier einer Porträtdokumentation über das Leben und Werk des britischen Psychoanalytiker Robert D. Laing vor in die Sphäre der animistischen Kräfte menschlicher Psyche mit ihren libidinösen Ökonomien der Aneignung und Abstoßung. Vor allem durch Interviews in Fernsehauftritten stellt Laing seinen Versuch dar sich von den herrschenden theoretischen Paradigmen der Psychoanalyse lösen zu wollen und die Internierung von psychisch kranken Menschen als Normierung einer sich selbst entfremdenden Gesellschaft zu verstehen. Sein theoretischer Kampf zeichnet sich hierbei durch Alkoholismus in seine physische Erscheinung ein. Selten zeigt sich eine menschlichen Ruine im Informationszeitalter so eindrücklich als Produkt eines verzweifelten Kampfes gegen die Mühlen dominierender Wissenschafts- und Gesellschaftsdiskurse wie hier.

Thematisch ähnlich gelagert ist THERE IS SOMETHING IN THE AIR (Iram Ghufran, India, 2011). Der Film zeigt einen Schrein eines Sufi-Heiligen im Norden Indiens, in dem Besessene ihre seelische Leiden (afflictions) ausleben können. Ein karnevalsker Zustand (dem ein Selektionsverfahren vorausgeht: physische Verletzungen an Andere sind ausgeschlossen), in dem die verrückten Aktionen als performative Inszenierung erfahrbar sind und weniger in ihrer pathologischen Dimension einer Abweichung von einem gesellschaftlich normierten Verhalten. Gerade die performative Perspektive auf physische Extremsituationen eröffnet die Frage nach anderen Lebensformen und noch unerforschten kreativen Potentialen.

ANATHEMA by Otolith Group (http://lux.org.uk/collection/works/anathema).

Der Film ANATHEMA von Otolith Group (GB/ FRANCE 2011) greift den zeitgenössischen Moment der Interaktion zwischen Mensch und Maschine heraus: den Touch-Point von tastempfindlichen Monitoren. Das audiovisuelle Repertoire des globalen Marketings liefert das Material für den Moment der Autoaffektion beim Berühren der Technik: die kapitalistische Ökonomie hebt auf das ‚pleasure‘ eines Ich-Individualismus ab und kontrolliert durch Flüssigkristalle wie Parasiten die menschliche Libido. Eine Ökonomie, die so umfassend ist, dass sie nicht allein Angebote macht, sondern zum denken zwingt: ein dialektisches Problem des Interface von Hard- und Software. Wissenschaftlich fundierte Mikrooptik suggeriert zusammen mit sphärisch-elektronischen Klängen einen meditativen Traumzustand der Maschinen. Gerade mit dieser Pleasure-Ästhetik bedient der Film paradoxerweise eben jene Affekte, die er versucht kritisch auszustellen. Damit ist jene epistemologische Schwierigkeit eröffnet gerade denjenigen Mechanismen zu wiederholen, den das vorhandene (Werbe- und Wissenschafts-) Material stellt: den ich-fixierten Aha-Effekt des Staunens.

Dass die ästhetischen Schwierigkeiten auch filmpraktische Konsequenzen nach sich ziehen kann, war Thema des Panels WORKING THE CRISIS, in dem vor allem kollektive Arbeiten als Reaktion auf Krisenphänomene in ihrer Relevanz diskutiert wurden. Die Kooperative CinémaCopains (Minze Tummescheit/ Arne Hector: Mitbegründer der Initiative LaborBerlin) zielt hierbei auf die Expansion einer Interessengemeinschaft im Dienste einer Suche nach einem eigenen politisch-ästhetischen Diskurs durch aktivische Teilhabe und Produktion einer Öffentlichkeit, die sich bewusst einem Außerhalb des industriellen Fortschritts zuwendet.
Politischer Aktivismus und Filmemachen fallen hier in eins und die Frage, ob kritische Distanz zum Geschehen gewahrt bleiben soll, wird verkehrt in eine direkte Produktion eben jenes revolutionären Gegenstandes.

anders, molussien

anders, Molussien / autrement, la Molussie / differently, Molussia, R.: Nicolas Rey, Fr, 2011.

Vergleichsweise radikal fällt hierbei ANDERS, MOLUSSIEN (FR, 2011) von Nicolas Rey aus. „Die molussische Katakombe“ von Günther Anders, der einst mit Hannah Arendt verheiratet war, dient als Ausgangspunkt: Rey, ohne Kenntnis der deutschen Sprache, lässt Zitate auf deutsch verlesen. Die Zitierung wird so zum intuitiven Akt des Vertrauens in das Fremde und verbunden mit ruinösen Landschaften, wie sie vielleicht ein Tarkowskij oder Bela Tarr evoziert. Gespiegelt wird hier durch die radikale Inszenierung ein geschlossenes, faschistisches Wahrnehmungssystem, das den Zuschauer voll auf sich zurückwirft. Eine verstörende Erfahrung, die eine scharfe Fratze hervortreten lässt: den Faschismus im Kapitalismus. Es bedarf eines neuartigen Vokabulars, um diese libidinösen Ökonomien aufzudröseln, da Information und Affektion ineinandergefallen sind, die Privatisierung die kollektive Sphäre erfasst hat und analytische Methoden verdächtig geworden sind.

Die Auswahl der Filme setzt eine scharfe Zäsur und legt eine weitere Ebene menschlicher Psyche frei: nach dem Terror-Jahrzehnt ist der Hauptaffekt Angst einem Gefühl grundlegender Unsicherheit gegenüber dem rationalen System gewichen. Finanz- und Demokratiekrisen geben den Blick frei auf den Abgrund eines fehlenden rationalistisches Fundaments. Krisenphänomene werden zur neuen (Diskussions-) Grundlage für eine demokratische Verständigung über Gesellschaft und Gemeinschaft – und zwar auf Basis einer Sphäre des Ästhetischen, die nun zum politischen Kampfplatz geworden ist. Als ‚turning point‘ gilt in Bezug auf das Medium Film dessen wiederentdeckte animistische Qualität. Befördert durch den Diskurs der Antipsychiatriebewegung der 60er und 70er Jahre um Felix Guattari, Gilles Deleuze und Franco Berardi reflektiert die Filmauswahl in ihren unterschiedlichen Praktiken den theoretischen Diskurs.

Vielleicht ließe sich die kuratorische Linie auf einen animistischen Zugang zum Medium Film skizzieren, dessen ästhetische und künstlerische Praxis in Bezug zu libidinösen Affekten genauso steht wie zum technologisch abgerichteten menschlichen Körper und zur unmittelbaren Erfahrung von neuen Sphären von Gemeinschaft.

 

Filmliste: FORUM EXPANDED 2012, Kritik und Klinik I
BAROMETER (I) (Heike Baranowsky, D 2011)
ALL DIVIDED SELVES (Luke Fowler, GB 2011)
THERE IS SOMETHING IN THE AIR (Iram Ghufran, India 2011)
ANATHEMA (Otolith Group, GB/ FRANCE 2011)
ANDERS, MOLUSSIEN (Nicolas Rey, FR, 2011)

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