Japanische Popkultur weckt sofort Assoziationen zu ganz viel Pink und Neon, Zuckerwatte und alles かわいい („kawaii“ – ein allumfassender Begriff, der ungefähr alles bezeichnet, was süß und niedlich ist, ganz große Augen hat und unglaublich fluffig ist): Im Kontrast dazu stehen die zahlreichen Filme der diesjährigen Nippon Connection, die sich vor allem den monochromen Bildern und dem Schwarz-Weiß-Film als ausdrucksstarkes filmisches Element japanischer Gegenwartskultur verschrieben haben.
Nachdem mich Google Maps zunächst einmal gefühlt einmal am äußersten Gürtel um die ganze Stadt herum geführt hat, bin ich sehr glücklich, als ich endlich die ersten pinken, an Laternenpfählen positionierten Fahrräder und Plakate der Nippon Connection sehe: Ich habe mich also nicht komplett im Frankfurter Straßenwirrwarr verloren, sondern es tatsächlich ans Ziel geschafft! Leicht verschwitzt werde ich am Pressestand sehr überschwänglich begrüßt – „Sie kommen aus Berlin, richtig?!“ – Ja, richtig. Immer noch aus der Puste, sehr hungrig und etwas verwirrt, aber voller gespannter Vorfreude auf die 16. Ausgabe des weltgrößten Filmfestivals für japanischen Film außerhalb Japans, nehme ich meine Presse-Akkreditierung entgegen. – Ich bin mir nicht sicher, ob das der mittelmäßigen Qualität des Druckers geschuldet oder Absicht ist, aber die Akkreditierung hat durch den verwaschenen und pink unterlegten Graustufendruck so einen leichten 3D-Effekt – sieht retro aus, aber auch ziemlich cool! – Es riecht nach japanischem Imbiss und ich bin bereit ab jetzt wirklich alles, was jetzt passieren wird, super zu finden!
Ganz stilecht beginne ich das Festival also mit einer großen Schale (leider nicht mehr ganz so heiß dampfender) japanischer Ramen-Suppe und arbeite mich durch das Programm: Die Verleihung des Nippon Honor Award an Kiyoshi Kurosawa, Regisseur japanischer Genreklassiker, wie CURE, PULSE, aber auch TOKYO SONATA und JOURNEY TO THE SHORE, für den er 2015 in Cannes den Preis der besten Regie in der Sektion „Un Certain Regard“ erhielt und der auch die 16. Nippon Connection eröffnet, habe ich leider verpasst.
Kurosawas aktuellster Geniestreich CREEPY, der auch im Programm der 16. Nippon Connection nicht fehlen darf, lief ja bereits auf der Berlinale – zu meiner Kritik geht es hier entlang.
Mein persönliches Festival eröffnet also Rei Sakamoto mit seinem etwas anderen Fukushima-Film MY TECHNICOLOR GIRL. Rei Sakamoto ist vor allem für seine so genannten Pinku Eiga (zu deutsch: „Pink Film“) bekannt, einem japanischen Filmgenre, das sich zwischen dem Erotik- und Kunstfilm bewegt und sich seit den 1960er Jahren großer Popularität im japanischen Kino erfreut.
Nach der Dreifach-Katastrophe des 11. März 2011 verlässt Nagano Mitsuhiro (Sano Kazuhiro), der gerade eine Kehlkopfoperation hinter sich hat, die psychiatrische Klinik in Fukushima, in der er geistig gesund die letzten 40 Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er beschließt, mit dem Fahrrad nach Tokio zu fahren, um dort so etwas wie seine Jugendliebe wieder zu treffen: Die damals sehr umtriebige Tateishi Sachiko (Ito Kiyomi), an die er als Junge am Strand seine Jungfräulichkeit verlor.
Ich mag an dem Film seine unkonventionelle Auseinandersetzung mit dem tragischen Thema der Katastrophe: Trotz der Verlorenheit seiner Hauptfiguren strahlt MY TECHNICOLOR GIRL so etwas wie Hoffnung aus und verzichtet dabei komplett auf jedwede Art der Betroffenheitsdemonstration. Besonders gut gefallen mir die künstlerischen Elemente des Films, das virtuose Spiel mit der Stummheit der Hauptfigur – einer Sprachlosigkeit, die nach dem nationalen Trauma von Fukushima durchaus auch metaphorisch und sozialkritisch zu verstehen ist -, so baut Sakamoto unter anderem klassische Stummfilmelemente ein. Verzweifelt komisch und dabei wirklich stark ist die Szene, in der Nagano mit seiner wieder gefundenen Liebe beim Karaoke im Duett den titelgebenden japanischen Popsong My Technicolor Girl „singt“.
Meinen ersten Festivaltag beginne ich mich einem der bisherigen Highlights, THE WHISPERING STAR von Regiemaschine Sion Sono, der gleich mit zwei Filmen auf dem Fesitval vertreten ist.
Dieser für sein aktuelleres Werk eher ungewöhnlich ruhige, poetische, beinahe komplett in Schwarz-Weiß gedrehte Science-Fiction-Film, spielt in einer post-apokalyptischen Welt in der die Menschen nach einer unbestimmten Katastrophe zu einer bedrohten Art geworden sind. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der ewig junge Android 722 Yoko Suzuki (Megumi Kagurazaka), die mit ihrem Retro-Spielzeugraumschiff und flüsterndem Bordcomputer für die interstellare Paketzustellung zuständig ist. Die wenigen, auf verschiedene Planeten verteilt lebenden Menschen, schicken sich Pakete mit scheinbar bedeutunglosem Inhalt: Fotografien, Papierbecher, Zigarettenstummel – alles Erinnerungen an vergangene Zeiten. Im Weltall herrscht beinahe totale Stille, Geräusche würden die Menschen wohl nicht ertragen. Zu den wenigen Tönen, die man hört, gehört der tropfende Wasserhahn im Raumschiff und das kindliche Flüstern des Bordcomputers. Gespenstische Landschaftsaufnahmen kontrastieren sich mit den klaustrophobischen Aufnahmen des Raumschiffinneren und wecken in mir Assoziationen zu Wim Wenders DER HIMMEL ÜBER BERLIN oder Andrej Tarkowskis STALKER. Gedreht wurde in der evakuierten Gegend um Fukushima, was dem Film eine unheimliche Aktualität und soziopolitische Tragweite verleiht. Eventuell markiert auch gerade diese für Sion Sono so untypische Zurückgenommenheit den Beginn einer etwas anderen filmischen Auseinandersetzung mit dem nationalen Trauma der Dreifach-Katastrophe von Fukushima?
Über diesen Film muss ich auf jeden Fall noch eine Weile nachdenken.
Eigentlich wollte ich diesen Tag ganz Sion Sono widmen, leider ist LOVE AND PEACE, der zweite Film, mit dem er hier auf dem Festival vertreten ist für heute schon ausverkauft.
Also schaue ich mir stattdessen den experimentellen Retro-Sciene-Fiction-Streifen ANOHITO von Ichiro Yamamoto an: Noch ein Schwarz-Weiß-Film über eine eigenartig vergangene Gegenwart, in der Japan sich noch im Krieg befindet. Der Film basiert auf einem Drehbuch, das 1944 geschrieben und nie realisiert worden war, bis es erst kürzlich wieder aufgetaucht und schließlich verfilmt worden ist. Alles an ANOHITO wirkt eigenartig und irgendwie unecht – ein Effekt, der wohl durchaus so gewollt war. Ein irgendwie interessanter Film und auch wenn ich gerade kein richtiges Urteil darüber fällen kann, bin ich froh, ihn gesehen zu haben.
Außerdem noch konsumiert:
PINK AND GRAY von Isao Yukisada, eine verwickelte Geschichte über Freundschaft, Erfolg, Neid und die Mechanismen des japanischen Starsystems: Ein Film im Film über den Film dessen Ende wohl überraschen soll. Interessante Idee, leider werden ein paar zu viele Metaebenen eröffnet und ich bin dann irgendwann ausgestiegen.
Gegessen habe ich eine Packung TUC-Kekse, zwei Äpfel und einen Falafel-Dürüm. Japanisch gibt es erst wieder morgen.