Wie ein sich langsam ausbreitendes Gift

Berlinale Special, CREEPY von Kiyoshi Kurosawa

Diese kleinen Vorstadtstraßen, das geordnete Chaos aus zu Pflanzenkübeln umfunktionierten alten Kunststoffkanistern vor kleinen Einfamilienhäusern und die nachbarschaftlich genutzten Müllkäfige wecken in mir sofort so etwas wie Fernweh.
Dieser Vorort ist der Prototyp des japanisch-bürgerlichen Suburbia. Hier haben die Straßen keine Gehwege, was aber eigentlich auch egal ist, denn im Großen und Ganzen ist es hier eher verkehrsberuhigt. Ab und an sieht man eine Straßenkatze vorbeihuschen, die Spielplätze sind leer. Japan ist eine alternde Gesellschaft. Und auch wenn es für mich so aussah, als seien in Tokio beinahe alle jungen Frauen um die dreißig schwanger UND zögen bereits zwei kleine Kinder hinter sich her, merkt man das in der Vorstadt sehr deutlich: Kinder gibt es hier eher wenige und die, die es gibt, sind meistens in der Schule oder sonstigen Bildungseinrichtungen.

Vor dieser austauschbaren bürgerlichen Fassade inszeniert Kiyoshi Kurosawa seinen psychedelischen Horrorthriller CREEPY, der trotz seiner relativ vorhersehbaren Plotline doch einige unerwartete Wendungen und ein überraschendes Ende bereit hält.

© 2016 “CREEPY” FILM PARTNERS

© 2016 “CREEPY” FILM PARTNERS

Der Ermittler Takakura, ein Spezialist im Umgang mit kriminellen Psychopathen zieht sich nach einem Berufsunfall aus dem Polizeidienst zurück. Er unterrichtet an der Universität Kriminalpsychologie und bezieht mit seiner Frau Nasuko und dem gemeinsamen Hund ein kleines Haus in einem ruhigen Vorort. Nasuko geht eigentlich keiner beruflichen Beschäftigung nach, was in Japan für eine kinderlose Frau eigentlich eher unüblich ist. Ihre Aufgaben bestehen darin, abends das liebevoll zubereitete Essen auf den Tisch zu stellen und für häuslichen und nachbarschaftlichen Frieden zu sorgen. Nach und nach kommt heraus, dass sie sich zwar irgendwie Kinder wünscht, der potenzielle Erzeuger dem Thema jedoch kategorisch ausweicht. Bleibt ihr also nur das Haustier, ein fluffiges, kalbsgroßes, unglaublich tollpatschiges Hundetier, das in dieser irgendwie leicht heruntergekühlten Szenerie deplatziert wirkt.
Der häusliche Frieden scheint für Nasuko relativ unkompliziert zu wahren zu sein, wenn ein paar einfache Regeln eingehalten werden: Nur über Belangloses reden, den Ehemann unter keinen Umständen auf seinen ehemaligen Job als Ermittler ansprechen, keine persönliche Themen anschneiden, vor allem auch keine Sorgen oder Bedenken aussprechen und wirklich auf gar keinen Fall merkwürdige Vorkommnisse im Umgang mit den lieben Nachbarn anmerken. Dass mit den Nachbarn irgendetwas nicht so ganz stimmt, wird relativ schnell klar, als das neu eingezogene Paar mit kleinen Empfehlungsspräsenten dort vorstellig wird und ihnen entweder die Tür direkt vor der Nase wieder zugeschlagen wird oder die Reaktion auf diese höfliche Geste äußerst abweisend und in jeder Hinsicht merkwürdig ist.
Alles am Auftreten des Nachbarn, Herrn Nishino, eines verschlagen aussehenden, sozial und körperlich ungelenken Mannes, vor dem selbst die eigene jugendliche Tochter Angst zu haben scheint, schreit nach Rückzug. – Aber das filmerprobte Publikum wird sich denken, dass das genaue Gegenteil eintreten wird: Natürlich wird Nasuko die Nähe des mysteriösen Herrn Nishino suchen und natürlich wird dies schreckliche Folgen für alle Beteiligten nach sich ziehen.

Kurosawa verarbeitet hier typische Elemente des Polizeithrillers – ein Polizist mit so genannter backstory wound (einer traumatischen Erfahrung aus seiner persönlichen oder beruflichen Vergangenheit) wird eher früher als später jäh von den vergangenen Ereignissen eingeholt – mit typischen Mustern der Neighbour-Horrorstory: Ein junges Paar zieht in eine neue Gegend und trifft dabei auf teuflische Nachbarn mit mörderischen Absichten, wobei hier sogar die Geschlechtertypisierung gewahrt wird. So erfüllt Takakura die Rolle des abgelenkten und vielbeschäftigten Ehemanns vorbildlich, während Nasuko, die latent unterforderte und unterschwellig unzufriedene Ehefrau, sich gegen ihre Intuition auf jede Möglichkeit zur Ablenkung in Form einer Hinwendung zu den Ach, so netten Nachbarn einlässt.

Im Rahmen seines neu angetretenen Jobs als Dozent wird Takakura auf einen Fall aufmerksam, der nie gelöst worden ist: Vor vielen Jahren verschwand in einem Vorort auf mysteriöse Weise eine komplette Familie von der lediglich die jugendliche Tochter verschont worden war. Höchst traumatisiert konnte sich diese den eigenen Angaben nach an nichts mehr erinnern. Und auch als Takakura zusammen mit seinem ehemaligen Partner den Fall wieder aufrollt und das Mädchen befragt, kann es sich die damaligen Ereignisse nicht wirklich in Erinnerung rufen und berichtet lediglich von einem sehr eigenartigen Abhängigkeitsverhältnis der Eltern und des Bruders zu einer außenstehenden Person. Als die verschwundene Familie dann im Laufe des Films in Plastik eingeschweißt wieder auftaucht, wird klar, dass dieser Fall noch lange nicht abgeschlossen ist und Takakura bereits sehr viel tiefer in der Sache drin steckt, als es ihm lieb ist.

Diese beiden zunächst einmal parallel verlaufenden Handlungsstränge – der unaufgelöste Fall aus der Vergangenheit und die merkwürdige Nachbarschaftschaftsbeziehung – lässt Kurosawa sehr geschickt zusammenlaufen, um diesen relativ fest gesteckten Handlungsrahmen dann virtuos zu durchbrechen: Ab der zweiten Hälfte des Films tritt der zuvor lediglich unterschwellig spürbare Horror dann offen zutage. Der Tonartwechsel überträgt sich direkt in die gesamte Ästhetik und Inszenierung des Films: Das zunächst einmal auf eine helle, eher kühle und klare Farb- und Formsprache fokussierte Bild verdüstert sich angesichts der fortschreitenden Zersetzung aller sozialen Beziehungen zunehmend zu einer beinahe körperlich spürbaren, schweißnassen, klebrigen, neongrünlich flackernden Stimmung, die wie ein zerstörerisches Gift, genau dort andockt, wo es am wirkungsvollsten ist – im Nervensystem. In einer beinahe physischen Inszenierung gelingt es Kurosawa, die Erwartungen es Zuschauers an den weiteren Handlungsablauf immer wieder zu entlarven, kunstvoll zu durchbrechen und das Grauen körperlich spürbar zu machen. Dies erklärt sicherlich auch die zahlreichen unangebrachten Lacher im Kinosaal, ist Lachen doch auch ein physischer Abwehrmechanismus gegen spontane Angstzustände oder Unsicherheit.

Trotz der relativ distanzierten Kamerasprache – Kurosawa setzt eher auf die Totale und den Überblick, als auf körperliche Nähe zu seinen Figuren – gelingt es dem Film, den Schrecken direkt ins limbische System zu transportieren und der Handlung gleichzeitig eine größere Tragweite zu verleihen: Herr Nishino erscheint von seinem Verhalten und seinem Auftreten her wie ein japanischer oni, ein Dämon, oder wie der klassische griechisch-latinisierte diabolus, also im ganz wörtlichen Sinne, wie derjenige, der die bestehende Ordnung zerstört und alles durcheinander wirft.
Die bestehende Ordnung, das ist eine von innen heraus zutiefst verstörte japanische Gesellschaft, die sich an höflichen Gesten und formaler Ehrerbietung festhält, dem einzelnen Individuum kaum Entwicklungs- und Bewegungsmöglichkeiten erlaubt und jede emotionale Nähe im Keim erstickt. Symptomatisch wird dies im Film nicht nur einmal spürbar, als die Figuren auch in Momenten offensichtlicher Gefahr sich immer noch an ihren einstudierten Gesten des höflichen Umgangs festhalten.

Auch wenn ich nach drei Monaten in Japan keineswegs für mich beanspruchen kann, eine Kennerin der japanischen Kultur und Gesellschaft zu sein, so ist mir dennoch aufgefallen, wie schwer sich in Japan gerade junge Menschen mit den zahlreichen sozial vorgeschriebenen Regeln des Berufs- und Alltagslebens tun. Und auch wieviel Mut es erfordert, innerhalb dieses sehr konservativen und geistig wie körperlich erschöpfenden Lebens- und Arbeitssystems nach alternativen Lebensentwürfen zu suchen und diese selbstbewusst zu verfolgen.
Gerade für Frauen scheint die japanische Gesellschaft ein noch relativ klassisches Familienbild zu vertreten: Ist es doch meist der Mann, der nach der Heirat und der Geburt der Kinder arbeiten geht (und „arbeiten gehen“ heißt hier oft nicht 9-to-5 und dann Feierabend, sondern 9-to-9 und danach noch das verpflichtende Besäufnis mit dem Chef… – geteilte Kindererziehung ist in diesem Modell eher nicht vorgesehen) während die Frau alle Karriereambitionen begräbt, um sich ganz den Kindern zu widmen. – Oder sie entscheidet sich eben ganz für die Karriere und damit aber auch gegen Kinder.

Wie bereits in seiner erfolgreichen Miniserie, dem Fünfteiler SÜHNE, inszeniert Kurosawa gekonnt die Missstände in der „modernen“ Gesellschaft, wobei er auch hier seinen Schwerpunkt auf die Widersprüche zweier Frauengenerationen setzt, bei der eine heranwachsende, anpackende und energetische Töchtergeneration ihrer resignierten, abgestumpften Müttergeneration gegenüber steht – mit fatalen Folgen.

Die Vielschichtigkeit dieses zwischen den Genres changierenden Psychothrillers, der die Gestalt eines modernen Horrormärchens hat, seine sozialkritische Tragweite innerhalb eines relativ fest gesteckten Rahmens und die geschickte und unglaublich spannende Inszenierung machen aus diesem Film ein wichtiges Statement zum Status quo einer japanischen Gesellschaft, aber auch einen extrem spannenden und unterhaltsamen Beitrag für einen packenden Filmabend.

Filmtitel: CREEPY
Produktionsjahr: 2016
Produktionsland: Japan
Originaltitel: クリーピー / Kuripi
Regie: Kiyoshi Kurosawa
Drehbuch: Kiyoshi Kurosawa, Chihiro Ikeda
Kamera: Akiko Ashizawa
Schnitt: Koichi Takahashi
Darsteller: Hidetoshi Nishijima, Yuko Takeuchi, Teruyuki Kagawa, Haruna Kawaguchi, Masahiro Higashide
Filmlänge: 130 Min.