Das Unvernehmen der Buschmänner

A Kalahari Family von John Marshall

Auf einen Zeitraum von 50 Jahren kann die aktivistische Langzeitdokumentation von John Marshall zurückblicken und Bilanz ziehen. Der Film zeigt eine Revolte gegen ein Unvernehmen und eine Bildökonomie des Mythos vom Buschmann durch Staats- und Spendengelder. Am Ende verstrickt die Struktur des Mythos auch den Filmemacher selbst.

John Marshall © DER

John Marshall © DER

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass der Begriff der Langzeitdokumentation selten so geeignet scheint wie beim Projekt von John Marshall. Es ist nicht nur ein Familienprojekt, sondern ein Generationenprojekt. Dies betrifft sowohl die beobachteten Familien, als auch die beobachtende Familie. Sowohl vor wie hinter der Kamera. Ohnhin ließe sich diese Trennung von hors champ und champ in Bezug auf den Körper des Filmemachers nicht lange aufrechterhalten. John Marshall ist die aktivistische und treibende Stimme des Films. Die Stimme vermischt sich mit den sandigen Straßen und dem vorantreibenden Auto. Marshall nimmt eine besondere Rolle ein, in einer besonderen Situation, in einem wiederum als sehr speziell angesehenen Gebiet in Zentralafrika, einem Grenzgebiet zwischen Namibia und Botswana. Speziell ist es deswegen, weil hier bis vor wenigen Jahrzehnten die Buschmänner, die sich selbst so bezeichnen oder auch Juǀ’hoansi oder auch ǃKung heißen, noch als Jäger und Sammler lebten. Die Existenzgrundlage bildete ein über Jahrhunderte bestehendes Wissen vom Überleben unter unwirtlichen Bedingungen: das Anmischen von Gift für die Pfeilspitzen, das Aufstöbern von Wasser an Wurzeln und das Lesen von Spuren.

In diesem Film geht es allerdings um andere Kompetenzen: Als Teil einer sechstündigen und fünfteiligen Serie, die fünfzig Jahre im Leben der Juǀ’hoansi umfassen (1951-2000), fokussiert dieser Teil einerseits auf die Konflikte mit der Organisation von Gemeinschaften. Andererseits geht es um sehr existenzielle Probleme beim Versuch landwirtschaftlicher Kultivierung zur Subsistenzwirtschaft. Der Film stellt die Konflikte als ein Spannungsfeld zwischen den Interessen der Hilfsorganisationen und Spendern einerseits dar, sowie andererseits den Interessen der Juǀ’hoansi. Gerade jene, denen die Hilfe gelten sollte, fühlen sich übergangen und im Stich gelassen. Wasserspender und Bewässerungsanlagen, die mit Staats- und Hilfsgeldern gebaut wurden, sind von Elefanten zerstört worden und Ersatz ist selbst nach Monaten, bisweilen Jahren nicht eingetroffen. Die Elefanten selbst erscheinen im Film interessanterweise in einer doppelten Gestalt: einmal als unheilbringende Geister der Nacht, ein anderes Mal als nunmehr bloß unförmig erahnbare Fleischmasse und Jagdtrophäe. Der Elefant als existenzieller Störer und willkommenes Jagdtier.

Der Aktivismus` Marshalls wird vor allem im Interesse an den unter freiem Himmel abgehaltenen communial meetings deutlich: Pedantisch nennt er Interessenvertreter und Ihre Positionen, lässt unterschiedliche Parteien zu Wort kommen und tritt selbst als lokale Autorität in Erscheinung. Ja, er meldet sich selbst mehrmals zu Wort, wo es um die Rechte der Juǀ’hoansi geht und wo er meint, dass der Zweck der Hilfsorganisation in Vergessenheit geraten sei. Immer wieder hält er den Ausgaben und den Tätigkeiten der Hilfsorganisation seine eigenen Beobachtungen entgegen. Es ist klar, was er damit bezweckt: Die Hilfsorganisation gehe nicht nur verschwenderisch mit Spendengeldern um, sondern fördere durch die Politik der Geldvergabe eine finanzielle Abhängigkeit von eben jener Hilfsorganisation, deren eigentliches Ziel gerade das Gegenteil gewesen ist, wie Marshall erinnert: Hilfe zur Selbsthilfe.

Dabei liegt das Problem weniger darin, dass sich einige Wenige auf Kosten vieler Anderer bereichern, sondern vielmehr sieht Marshall das Problem schlicht in zweckgebundenen Spendengeldern und im Missmanagement. Es wird am konkreten Bedürfnis der lokalen Bevölkerung vorbeigeholfen. Die Hilfsorganisationen machen sich in ihrer Tätigkeit zu Komplizen einer auf Tourismus, Jagd und Filmlizenzen aufgebauten ökonomischen Struktur, die im Grunde bloß einen „Mythos der Buschmänner“ stabilisiert, der immer schon eine Projektion der Geldgeber ist. Bezahlt wird für Wild und Bild. Prinzipiell ist es nichts anderes als ein riesiger Zoo, mit der Ausnahme, dass darin nicht nur Tiere geschossen werden dürfen, sondern auch Menschen in vermeintlich ursprünglichen Habitaten zu sehen sind. Böhmische Dörfer in der Kalahari. Der Film zehrt hierbei stark vom historischen und lokalen Wissen, das Marshall in über 50 Jahren gesammelt hat – in Form von Film, Ton und persönlichen Interventionen. Marshall verwendet sein eigenes Material als Evidenz produzierende Beweismittel in einem Prozess der Bilder: Marshalls Bilderkosmos zeigt ein Gegenbild zum offiziellen Mythos von den in Harmonie mit der Natur lebenden Buschmännern. Hier treffen zwei vollkommen divergente Bildökonomien aufeinander: Am Set von THE GODS MUST BE CRAZY (Jamie Uys, ZA/BWA, 1980) sehen wir der Produktion jenes Mythos vom Buschmann zu, während Marshall kommentiert:

In the film as in the myth: The Bushman and the happy children of their mother nature which is generous enough to supply all they need, which is all they want. They share everything and live in perfect harmony with their environment and with each other. But the real hunters and gatheres are homeless, hungry and easy to exploit. […] The danger of the myth is that it attracts money and motivates people to turn the myth into reality.

Der Film zeigt also auch, wie eng Marketing und Mythos, Bildproduktion und ökonomisches Interesse verschaltet sind (wir erfahren, dass Nǃxau, der Hauptdarsteller, nicht als Jäger und Sammler lebte, sondern zuvor als Koch in einer benachbarten Schule arbeitete und sich entgegen der Darstellung nach dem Film nicht in seine ohnehin fiktionale Identität als Buschmann begab, sondern ein Haus und ein Auto kaufte (und im Folgenden an weiteren Filmproduktionen teilnahm, wie man schnell nachlesen kann).

„Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren.“ heißt es an einer Stelle im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften bei Deleuze. Die soziale Kontrolle tritt im Camp der Hilfsorganisation in Form von Whiteboards, Flip-Charts und Beratern auf, die ebenso schnell ausgetauscht werden wie die Leiter des Hilfsprojektes. In einem Moment erhebt einer der Teilnehmenden aus dem Community-Treffen Einspruch gegen die Darstellungsmethode der Verhandlung. Es geht um Grundlegendes: Die Darstellung des Diagramms können die meisten nicht verstehen, einfach weil sie nicht lesen können. Der Berater der Hilfsorganisation kommuniziert seine Vorschläge mit Schrift und Tafeldiagrammen einer Gruppe von Analphabeten. Es wird eine andere Form der Darstellung eingefordert, damit auch die Analphabeten gehört werden. Es ist der Spartacus-Moment des Films. Jacques Rancière würde wohl von einem Unvernehmen sprechen. Es kommt zu einer veritablen Revolte, die zur Konsequenz hat, dass der Leiter der Hilfsorganisation abgesetzt wird. Dies hat wiederum im Grunde nur zur Konsequenz, dass der Reigen der Führungskräfte beginnt, die letztlich nichts weiter sind als operative Vasallen der Geldgeber, die den Mythos nähren. Gut gemeint ist halb gekonnt.

Auf einer ästhetischen Ebene hat der Film jedoch einen blinden Fleck und dies hat mit dem aktivistischen Impuls des Films zu tun: Sowohl der Kommentar als auch die Perspektive des Films kommen von einem Außen her, das mal historisch mit dem umfangreichen Material der Marshall-Family begründet wird, mal schlicht die Fiktion gegen Fakten ausspielt oder die Betroffenen selbst zu Wort kommen lässt (was gefühlt neben dem Kommentar den größten Raum im Film einnimmt). Vernachlässigt wird hierbei die Involviertheit des Filmemachers selbst, der an mehreren Stellen mit seinem filmischen Erbe konfrontiert wird: Eine der Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisation sagt zu Marshall, dass auch seine Filme dazu beigetragen haben, dass Touristen in diese Gegend kämen, um das „ursprüngliche Leben der Jäger und Sammler“ zu sehen. An andere Stelle wird ihm gar von einem der Juǀ’hoansi Komplizenschaft mit den Hilfsorganisationen vorgeworfen, da er vom Filmen ebenso profitiere. Beide Vorwürfe sind nicht ganz von der Hand zu weisen und Marshall stellt sich diesen, in dem er die moralische, fast paternalistische Hoheit wiedererlangt: mit seinem umfangreichen Wissen, seinem Filmschatz und seiner lokalen Autorität unter den Juǀ’hoansi. Letzlich verlässt sich Marshall auf jene drei zentralen dokumentarischen Kategorien der Authentizität (filmisches Erbe), Autorschaft (v. a. durch den Kommentar und die leibliche Präsenz vor der Kamera) und Autorität (moralische Hoheit). Und dass „Hilfe zur Selbsthilfe“, wie sie Marshall vorschlägt, nicht die Lösung des Problems ist, zeigt die jüngste Forschung zur Entwicklungshilfe. Wie soll man sich auch aus einem Mythos durch Selbsthilfe befreien, wenn er durch eben jene Hand genährt wird, die einem die Hilfe anbietet? Wie ist in diesem Circulus vitiosus Eigensinn und Selbstbestimmtheit möglich? Wie kann Souveränität erlangt werden, wo der Mythos im Wege steht? Es ist eine Gefangenschaft in einer kolonialen Projektion des weißen Mannes. Marshall ist es zu verdanken, dass solche Fragen überhaupt möglich sind.

In den repetitiven Momenten der Jeepfahrten von Dorf zu Dorf zu Hilfscamp, zur Hauptstadt und wieder zurück, wird ein aktivistischer Impuls spürbar, der vom Diesel getragen zugleich die Perspektive einengt: eine Art Tunnelblick unter freiem Himmel. Im Fluchtpunkt der Straße wird eine Lösung aus diesem Teufelskreis angepeilt, wo es doch darum ginge überhaupt erst einmal zu verstehen und etwas erfahrbar zu machen: Es tritt nicht allein der Mythos von den primitiven Buschmännern auf, sondern auch der Mythos vom zivilisierten Denken. Auf einer ästhetischen Ebene haben wir es also mit einer Konfrontation von Bildwelten zweier Mythen zu tun. Und dieses gegenseitige, zum Teil verschachtelte Verhältnis ist viel komplizierter ist als dies von Marshall dargestellt wird.

Wir haben es mit einem Problem der Bildperformanz zu tun: Im Moment des Fotografierens, Filmens und der Tonaufnahme setzt sich zugleich auch eine Absicht mit in die Instantiierung (die Illokution), die unvorhersehbare Effekte zeitigen kann (die Perlokution). Prägnant kommt dies in eben jenem Moment zum Ausdruck als John Marshall mit versteckter Kamera in ein Meeting der Hilfsorganisation eindringt. Mit dem Ziel die Hilfsorganisation in ihren hinter verschlossenen Türen stattfindenden Treffen bloß zu stellen, wird zwar zum einen die verfahrene Situation mit ihren Ausschlussmechanismen deutlich, zum anderen aber auch die Grenzen aktivistischer Initiativen. In ihrer Bildperformanz steht diese Szene für den inhärenten aktivistischen Impuls des gesamten Films. Die Bildperformanz offenbart eine Bildwelt, die Anteil nimmt an den kommunitären Strukturen, sich mit ihnen aber zugleich verschwistert und Partei ergreift. Dagegen ist zunächst auch nichts einzuwenden, jedoch trägt dieser Ansatz nicht zur Lösung der Situation der Buschmänner bei.

Neben vielen anderen Schwierigkeiten handelt sich auch um ein Problem des Medialen, das sowohl im Falle der Hilfsorganisationen, der Betroffenen, wie von Marshall selbst immer von einem Außen adressiert wird und man darüber spricht, als wäre man bereits außerhalb, während man längst darin verwickelt ist. Die Bildperformanz offenbart die Unmöglichkeit einer Metaperspektive. Vielleicht könnte eine andere Form der Wahrnehmung, ein Blick von der Seite, eine andere Weise der Sensibilisierung für die Situation helfen. Nicht die Götter sind verrückt, sondern das Spiel, dessen Regeln sich die Menschen selbst geschaffen haben (ist nicht ständig von Spielen die Rede?). Wie diese Abhängigkeiten und Projektionen funktionieren und welche Antworten auf die Gewalttätigkeit der Ignoranz und Apathie zu geben sind, wird wohl das Erbe und die Aufgabe der nachfolgenden Generationen sein.

Filmtitel: A Kalahari Family
Produktionsjahr: 1951 - 2001
Produktionsland: USA
Regie: John Marshall
Kamera: John Marshall, Ross McElwee u.a.
Filmlänge: 87min
Verleih: DER Documentary Educational Resources