Ein Transformationsfilm. Am Ende werden wir an unser Anderes erinnert sein, doch die Antwort darauf müssen wir selbst liefern – außerhalb der Leinwandwelt und im Innern unseres wölfischen Seelenlebens. Der Film zeigt dies in einer zärtlich gezeichneten Wildheit, die ihrer eigenen Kontrolliertheit entkommen möchte.
Selten sieht man einen solchen Blick. Ein Blick, indem ein ängstliches Begehren, scheu und zugleich neugierig, duckend und hervorluckend in wenigen Gesichtszügen Platz findet. Eine zarte Naivität, die sogleich ihre aggressiv wilde Seite zeigt. Das Gesicht, ja das gesamte Körperspiel von Lilith Stangenberg birst voller zarter Wildheit – oder wilder Zartheit? Es ist ein Projektionsspiel, in das sich der Film einlässt. Die Frau wird Wolf.
Was vom Wolf umgekehrt wiederum nicht zu sagen ist. Der schert sich wenig um die Ambitionen der Frau, ist vielmehr an ihrer Nähe und filetiertem Supermarktfrischfleisch (zur Abwechslung gibt´s auch Lebendkarnickel) interessiert. Die Projektionsmaschine ist bereits in der ersten Begegnung im vollen Gange. Der Wolf, das mystische, wilde zugleich loyale und treue Tier erscheint hier weniger in der klischierten Deutschmärchenvariante einer intriganten Bestie, taugt schon gar nicht als allegorisches Wesen für Reichsgründungen (Italien) oder als spirituelles Wesen der Steppe. Der Wolf ist ein fremder Anderer, der herzlich wenig für die Interessen anderer übrig hat. Wirft man ihm Fleisch hin, steuert er zielstrebig darauf zu. Sieht er eine Fluchtmöglichkeit, ergreift er sie. Sieht er einen Eindringling – man denke an die Dachszene mit dem Chef – fletscht er die Zähne. Der Wolf wird als gradliniges, direktes Tier gezeichnet, das dadurch keineswegs weniger ambivalent und magisch wird. Das Tier wird in gewisser Hinsicht mit einem Kredit belastet: Es dient als eine Art Katalysator. Anja (Lilith Stangenberg) befindet sich im Umbruch zu Sich. Die Tochter ist aus dem Haus. Sie gewinnt ein Stück ihres Lebens zurück. Kommt nun die Zeit der Erotik? Man kann nun natürlich vielerlei psychoanalytische Anspielungen vornehmen und die Abwesenheit des Mannes, des Vaters sowie den im Sterben liegenden Großvater als eine quasi schwache männliche Familienlinie zeichnen, die durch den Wolf umso stärker hervorbricht. Doch was wäre mit dieser wiederum selbst domestizierten Deutung gewonnen? Und hat nicht der Chef (Georg Friedrich) selbst etwas wolfartiges in seiner aggressiven und aber auch zärtlich-fürsorglichen Art? Streunert er nicht ebenso durch Nacht und Tag? Mag sein, dass er das schwache, menschliche Spiegelbild zum Wolf abgibt. Doch auch hier macht es die Radikalität des Films nur deutlicher: Ist es nicht gerade dieses ausgeschlagene Alternativangebot („Komm zu mir. Ich sorge für Dich.“), dass die Sehnsucht nach dem Wilden umso stärker hervortreten lässt? Und besteht hierin nicht vielleicht die dringendste Frage, die der Film aufwirft: Wo ist des Menschen Wildheit geblieben? Wo ist ihr Ort? Da ist vielleicht sogar das Begehrtwerden sekundär, da es zu menschlich, zu sehr von der Erwartung her gedacht ist und weniger vom Wolf her – dem, der nichts erwartet, sondern nimmt, was er bekommen kann. Dass der Wolf gar das Menstruationsblut der Frau aufleckt und sie zum Höhepunkt führt, sei es nun geträumt oder nicht, sagt weniger etwas über das Begehren der Frau, als über die Projektion auf das Tier. Es wird erotisch aufgeladen. Der Wolf erhählt erotischen Kredit. Es geht hier nicht um Sodomie und Provokation bürgerlicher Moralvorstellungen, die, gleichwohl sie tangiert werden, nie jedoch der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Hierfür fehlt dem Film auch der theoretisch-moralische Überbau eines Pasolini – und er braucht ihn auch nicht, geht es doch nicht um ideologische Kämpfe, sondern um eine direkte Erfahrung. Dem entspricht die Zärtlichkeit der Szenen. Selten habe ich Blut, Sperma und Scheiße zärtlicher und gar unschuldiger gesehen als in diesem Film. Dies liegt zum Einen an der Arglosigkeit der Aktionen (Es liegt weniger Aggression in dem Scheißhäufchen, das Anja auf dem Schreibtisch hinterlässt, als viel mehr eine Art Dankbarkeit. Und das brennende Büro ist weniger ein Racheakt als vielmehr ein Befreiungsschlag). Es muss wohl aber auch an Reinhod Vorschneiders präziser Sanftheit liegen, die dem Wilden ihre Kontrolle zurückgibt und buchstäblich im Rahmen hält, was anderweitig entglitte. So kommt die Isoliertheit der Figur Anja (Lilith Stangenberg) im ersten Teil des Films durch exzessive Rahmung und Bildtrennungen, besonders in den Büroszenen, aber auch während der Betriebsfeier zum Ausdruck. Ganz anders hingegen funktioniert der Sog des Wolfes: Die Physis kommt immer mehr ins Spiel, die Kamera wird ihr sanfter Zeuge. Es scheint fast so, als ob die Kamera, selbst in jenem Zwiespalt gefangen ist, in der sich auch die Protagonisten befinden: Wie das Wilde in aller Kontrolliertheit des Settings zum Ausdruck bringen? Das fettige Haar von Lilith Stangenberg, die dreckigen Hände, die abgewetzten Klamotten, der schlurfig gleitende Gang, der bevor er etwas Graziles bekommt, doch abbiegt in eine naive Selbstabgerücktheit und zarte Selbstvergessenheit. Ein Gehen aus einem fremden Inneren heraus (die Scheu), während sie zugleich in ein äußerer Fremdes hineinblickt (die Neugier). Und dann findet die Kamera doch wieder in einem schier endlosen Treppengeländer, das zum Freudenspiel kindlicher Perversion animiert, jenen Schwindel, der auf uns überspringt. Ein wölfisches Vertigo.
Es scheint so einfach, Abzweigungen zu nehmen, die sich dem Verstand („In diesem Haus herrscht Ordnung.“) entziehen. Der Sog wird dann tatsächlich in der gestrafften Wolfsleine sichtbar, als gegen Ende des Films der Wolf Anja in die Wildnis zieht. Der Zug wird just in dem Moment zum Entzug, wo Erschöpfung einsetzt und der Wolf in die Wüstenlandschaft davonzieht. Der Transformationsmoment findet in der Schlusseinstellung ihr Denkmal und ebnet dem Zuschauer den Weg für sein Wolfssein.
Der Film interessiert sich vor allem für die Physis seiner Darsteller und eine eigene Wolfszeit zur rasenden IT-Welt: Die Stille der Beobachtung macht einem anderen Bild Raum. Der Fernseher vom Großvater ist verhangen, geradezu verschleiert, als ob das Fernsehbild nicht recht zu sehen gibt, was es vorgibt zu sehen zu geben (Man sieht einen Wintersportler beim Schießen, jener Tätigkeit, in deren Direktheit zuvor auch die Protagonistin zu sehen war). Das Filmbild hat sich hier vom TV-Bild verselbständigt und eine eigene Realität, seine eigene Magie geschaffen. Der Film ist keinem irgendwie gearteten vorgeschalteten Realismus verpflichtet: Da ist der Film ganz Wolf und schaut ohne Argwohn mit einem direkten Blick ins Fremde, das fremd bleibt. Wollte man also eine Allegorie bemühen, so wäre es vielleicht die einer Interimszeit außerhalb der designten IT-Welt, die sich durch bloße Slogans der Werbewelt Be Wild nicht einholen ließe. Vielmehr geht es um Eigensinn, der wölfisch sich zeigt. Darin liegt vielleicht kein ideologischer Überbau, aber in jedem Falle eine andere Form der Ökonomie: Einer Ökonomie des erotischen Kredits und des Exzesses, Verbrauchs und Erschöpfung. Dies sprengt auch die Kategorien von männlich und weiblich: Es hat etwas ungezügeltes, etwas das out of joint ist. Genau an dieser Stelle aber tritt das Bild in eine zwanghafte Kontrolliertheit zum Bestialischen, dort, wo Wolf und Anja im Lächeln aufblenden.