Der aktuelle Ben Stiller Film hat mich auf merkwürdige Weise irritiert. Während ich im Kino durchaus mit dem sanft-melancholischen Drive gerne mitgegangen bin, kam mir das Ende dann doch etwas schal vor. Nicht nur handelt es sich um ein narzisstische Phantasma Mittys (Ben Stiller), sondern auch um einen amerikanischen Gestus einer vergangenen Gemeinschaft, die im Untergang noch einmal gefeiert wird – um sich dann rituell umso besser davon lösen und wandeln zu können. Was hatte mich da am Ende so irritiert? (Beware: Meine Ausführungen beinhalten Spoiler!)
Der auf einer Kurzgeschichte aus dem Jahre 1939 von James Thurber basierende Film ging durch mehrere Hände, bevor deren zweite Verfilmung von Ben Stiller in Personalunion realisiert wurde. Zuvor lag das Projekt unter anderem bei Chuck Russel und Steven Spielberg. Der Film verspricht nicht nur Eskapismus im Büroalltag, sondern – und darauf war ich gespannt – auch das Wirken einer transformatorischen Kraft jener Tagträume. Zwar war der Gang aus dem Kino noch seicht beschwingt, geriet aber recht bald in ein enttäuschtes Stocken: der Film träumte nur jenen Tagtraum seiner Herkunft. Naturbilder Hollywoods. Der Ausflug nach Grönland und Island lehnt sich an die New Ecofilm-Ästhetik der schönen, bewahrenswerten Natur an und in den Hubschraubertotalen über Berglandschaften kehrt das HERR DER RINGE Sujet „kleine Figuren gehen durch große Landschaft“ wieder. Der Film sucht Orte auf, die er sich dann problemlos aneignet. Was Mitty der Mandarinenkuchen, ist dem Film sein Orientbild: Völkerverständigung wird ins Lachen und den (geteilten) Genuss gesetzt. (In einer Encounter-Szene der Serie LOUIE tourt der Komiker Louie zu Soldaten nach Afghanistan. Dort wird ein ausgebüchstes Kücken, das Louies Tochter als Andenken ins Gepäck geschummelt hat, zum Objekt, das Amerikaner und Afghanen im Lachen eint. Wo Louie aber die sehr reale Gefahr waffengeladener Anspannung sowie Langeweile der Soldaten einfängt, führt die Afghanistanreise von Walter Mitty einzig dem Westen dessen Orientbild vor.)
Erfreulich ist, dass der Film in etwas abgewandelter Form ein Motiv der Verschränkung von Film und Realität ausspielt und das Prinzip von A PURPLE ROSE OF CAIRO etwas variiert: Mitty steigt in seine eigene Leinwand ein – und tatsächlich ist der Film genau am Übergang vom Tagtraum zur Reise nach Grönland erfreulich irritierend, was gleichwohl nicht wirklich lange anhält – man darf sich recht bald darüber versichert fühlen, dass Mitty TATSÄCHLICH in Grönland ist. Und das ist das eigentliche Problem des Films: er findet nicht wirklich zu einer eigenen Form, die die Kraft hat, diese wunderbaren Momente der Irritation über den Status der Illusion durchzuhalten. Daher ist das Geheimnis von Walter Mitty auch ein offenes. Auch wenn wir als Zuschauer das Privileg der Einsicht in Walter Mittys Gehirnleinwand haben, bleibt seiner Umgebung Mittys geistige Abwesenheit nicht verborgen – was die Figuren in seiner Umgebung redlich ausschlachten.
Was die Kurzgeschichte von James Thurber noch vergleichsweise durchlässig erzählt, gerät bei Ben Stiller doch in zwei klare Register der Wirklichkeitswahrnehmung. Die Kurzgeschichte ist prädestiniert für eine kinematographische Anverwandlung, denn gerade für den Tagtraum scheint das Kino die entsprechende soziale Institution zu sein. Stiller kassiert dieses Phantasma aber leider auf Kosten der moralischen Unsicherheit und gar des Tagtraums selbst ein, der seinen letzten Höhepunkt in eben jenem LIFE-Cover findet. Hand in Hand im Liebesbund geht Mitty am Ende davon, während ein Leben voller Möglichkeiten in der Fotografie gefangen gehalten bleibt. Der Film bleibt hier ganz dem Fotografischen verhaftet und trauert über diesen ontologischen Verlust. Der Grund für die Melancholie des Films ist nicht allein Mittys neurotische Veranlagung. Es ist auch die Trauer über den Untergang jenes Kinos, wie wir es kennen- und lieben gelernt haben, aber so nie wieder haben werden. Es ist jener ökonomische Wandel der Filmproduktion, den der Wandel von LIVE in LIVE-Online dot.com anzeigt. Diese mimetische Anverwandlung der ökonomischen Realität überformt das Sujet des Analogen melancholisch. Der Film zeigt daher, so würde ich behaupten, unter anderem auch den Paradigmenwechsel vom Analogen zum Digitalen an. Während die wahrhaftige Repräsentation der Welt und die authentische ästhetische Erfahrung im Kino noch einmal gefeiert wird, bedient sich der Film selbst ja des digitalen Produktionsapparates (ich sah den Film in einer digitalen Projektion).
Der Anfang des Films hingegen ist in seiner rhythmischen Pedanterie der Montage, Mise-en-scène und Schauspiels ein kleines Meisterwerk innerhalb dieser melancholischen Komödie. Mitty füllt sein Profil auf einer Online-Partnerbörse aus, um eine Arbeitskollegin Cheryl Melhoff (Kristen Wiig) online „einen Wink zu schicken“. Die Mauspadtaste des Notebooks erhält eine schicksalhafte Dimension. Das Zweiweltenhadern ist hier nicht nur paradigmatisch zwischen dem Virtuellen des Datenbankprofils und dem Aktuellen der Taste gesetzt, sondern zugleich verbunden mit der (dünnen) Liebesgeschichte. In wenigen Momenten ist Mitty als der Pedant und Suchende, der unsichere Haderer, der Looser charakterisiert, dem sogar Online keine Kontaktaufnahme wegen einer Störmeldung gelingt. Kurz darauf springt er (und der Film wechselt hier nahtlos auch ins Action-Genre) vom Bahnsteig durch das Fenster in die untere Etage eines Hauses und rettet den dreibeinigen Hund seiner Kollegin, dem er während der Rettung noch eine Prothese gebaut hat. Mittyism in a nutshell.
Der Film beginnt mit einem Hadern: drücken oder nicht drücken? Die Figur Mitty bewegt sich vor allem innerhalb eines binären Regimes zweier Alternativen, die ihm das Interface der Partnerbörse anbietet. Er hat zwar die Option, die Partnerbörse zu verlassen, aber auch hier: bleiben oder gehen? Gleiches gilt für die Suche nach dem verlorenen Negativ. Mitty bleibt in der Verkettung möglicher Entscheidungen gefangen. Mir scheint, dass einzig die Tagträume eine Art resistentes Refugium darstellen, das dieser Illusion von Freiheit einer binären Logik, Leben einhaucht: nur hier geschieht ihm etwas, das er nicht wählt. Die Tagträume überkommen ihn, sind nicht regulierbar und brechen in sein Leben ein. Wie ein plötzlicher Karneval in der Wüste, der als Fata Morgana erscheint, fesselt und genauso wieder verschwindet. Umso irritierender ist es, dass gerade Mitty selbst darüber erleichtert ist und sich geheilt fühlt, als nun die Tagträume nach den gelebten Abenteuern ausbleiben. Werden wir hier Zeuge einer psychischen Selbstdisziplinierung und Eingliederung in die „normale“ (heterosexuelle) Partnerwahl und Domestizierung einer Region möglichen Widerstands gegen diesen Zwang der Wahl eines Entweder-oder? Heißen wir Mittys „Heilung“ willkommen oder gibt sie nicht eher Anlass für eine Kritik? Will uns der Film nicht ebenfalls mit dieser Heilung versöhnen: Hand in Hand die Straße entlang?
Walter Mitty ist aber tatsächlich eine viel interessantere Figur als die Fremdzuschreibung des Major Tom nahelegt: auch hier bekommen wir die allegorische Deutung gleich an die Hand: einer, der den Mut hat ins Unbekannte auszuziehen (Reminiszenz an den Song von David Bowie). Hier nährt sich eine Popkultur von jenen Mythen, die sie hervorgebracht hat und schaut melancholisch auf analoge Zeiten, während in der Gegenwart der digitale Wandel Arschlöcher hervorbringt, wie den aalglatten Manager und fies Bubibärtigen Ted Hendricks (Adam Scott), der die Umstrukturierungsmaßnahme von LIVE in LIVE-ONLINE verantwortet. Das Managementteam ist nicht weniger als eine Karikatur jener digitalen Paranoia von Mitty. Was mich aber vielleicht am meisten enttäuscht hat ist die Tatsache, dass aus der Figur des Walter Mitty letztlich die kinematographischen Dimensionen nicht kreativ ausgespielt werden. Mitty verkörpert aus einer gewissen Perspektive das Kino paradigmatisch: er ist im Amerikanischen nicht nur Pseudonym für „Versager“, sondern zielt in seiner diminutiven Variante des Mediocren (middle -> „mitty“) auf eine moralische Erhebung des Massenpublikums. Als wandelnder Projektor proliferiert uns Mitty mit seinen Tagträumen lebendige Möglichkeiten des Wunschseins. Und genau dieses Potential bleibt im Film im seichten Wasser zweier Realitätsebenen, die einander letztlich dann doch klar getrennt bleiben. Wie auch das Digitale den Tagträumen und das Analoge dem Alltag zugeordnet bleiben.
Mitty der Wähler wird am Ende nicht mehr von seinem inneren Blick erfasst. Sein Blick auf die Kontaktabzüge gehört der analogen Vergangenheit an. Und ikonisch wird hier ein weiteres Mal die analoge Fotografie romantisch verkörpert einerseits durch den Fotografen Sean O’Connell (Sean Penn) – die personifizierte Freiheit: keinen festen Wohnsitz, kein Mobiltelefon, analoge Fotografie ohne Geotagging, wildes Haar, wettergegärbter Teint mit der Aura von INTO THE WILD, bei dem Penn Regie führte – andererseits vom einzigen ruhigen Ort im ganzen Film, der in seiner Konzentriertheit jede Bedrohung verliert und zur Zuflucht des Sammelns und Ordnens wird: das Negativarchiv, in dem Mitty arbeitet. Ein Ort für die gute alte Kunst des Art Departments, während die wilden Tagträume den digitalen Effekten vorbehalten bleiben.
Und was macht Mitty eigentlich die ganze Zeit? Er sucht, nein er jagt nach einem verlorenen Bild, einem (guten alten) Negativ. Was er dann erbeutet ist nicht das Negativ, denn dies lag ähnlich wie in Edgar Allen Poes „Der entwendete Brief“ immer schon offen da. Was das verlorene Negativ erfüllt ist eine narrative Funktion eines transformatorischen Elements, das Mittys Reisetagebuch füllt (und zugleich seinen Appeal in der Online-Partnerbörse erhöht). Was Mitty erbeutet ist sein Appeal: das transformieren einer persönlichen Erfahrung in digital personal value („Ich war am Himalaya.“, etc.). Die Bildjagd zeigt ihr Paradox in der Begegnung von Mitty mit dem Fotografen deutlich: mit einem Mal geht es um eine Sensibilität (für die Natur), die das Bild tötet und zugleich auch erst herstellt. Dass hier der Fotograf als Ikonoklast auftritt, der sich eines Bildes verweigert, mutet zunächst antiquiert und unzeitgemäß an – erst recht ist es unökonomisch. Auf der anderen Seite hindert dies den Film aber nicht daran sich über die Figur hinwegzusetzen, den Gegenschuss zeigt und damit der unbedingten Bilderproduktion im digitalen Zeitalter folgt. Im Film ist dieser Moment wohl eher moralisch zu verstehen als eine ökologisch motivierte Achtung vor der Schönheit der Natur, für die eben jene empfänglich sind, die auch auf das Drücken des Auslösers verzichten können. Der Verzicht des Fotografen – und das ist eine der vielen Inkonsequenzen des Films – führt nicht zur Enthaltung des Gegenschusses: wir sehen nicht nur die Schneekatze, wir sehen sie durch das Sichtfeld der (analogen) Kamera, das wiederum als Komposit digital ins Filmbild gesetzt wurde. Aus der Geste des Verzichts wird hier zugleich moralischer Kredit für Sean O´Connell gewonnen. Ich denke daher, dass das Geheimnis des Walter Mitty ihm selbst verborgen bleibt, da es immer wieder durch Bilder verdeckt wird: wo es als vermisst gilt, wird es gefunden, wo es nicht „geschossen“ wird, zeigt es der Film. Der nicht vorenthaltene Gegenschuss hielte jenes Geheimnis fest, das sich eben im Zeigen auflöst.
Der Film findet als Antwort auf den Wandel und die Erfordernisse der Gegenwart vor allem atavistische Gesten: Eskapismus in pubertäre Heroenphantasien, Betrauerung und Romantisierung des Analogen, (missverstandene) Völkerverständigung in Form eines romantisierten Orientialismus, siebziger Jahre Oldschool-Freiheit mit Skateboard, Backpack-Abenteuer, Back to Nature. In jenem LIVE-Cover setzt der Film seiner eigenen ontologischen Vergangenheit ein Denkmal und versöhnt sich zugleich damit, dass er nun selbst im digitalen Archiv des Netzes aufgehoben sein wird. In all dem aber insistiert ein erschreckendes Gespenst, das vielleicht in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft deutlicher gesehen wird: Ein gezähmter Mitty macht nicht nur weniger Spaß – er ist tot.