„Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbstständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren – die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat.“ [1]
Großstädte sind Zonen des permanenten Ausnahmezustands, der sich hinter der Fassade der Normalität zu verstecken scheint. In den Menschenmassen der Großstadt ist der Mensch nicht allein, aber einsam.
Die beiden im Folgenden beschriebenen Filme zeigen Ansichten von Menschen in Städten. Auch wenn die jeweiligen Themen der Filme sich deutlich unterscheiden, möchte ich hier dennoch diese Filme hinsichtlich ihrer filmischen Darstellungen der Stadt als Ort der Moderne, der Einsamkeit und Isolation aber auch des täglichen Kampfes der Individuen gegen die Mechanismen des städtischen Lebens darstellen.
Die Einsamkeit und Isolation in einem Land, das eigentlich nicht fremd und dennoch zutiefst unbekannt ist, thematisiert Jeong Kuy-hwan in seinem Film DANCE TOWN. Der dritte Teil seiner Städte-Trilogie (bestehend aus MOZART TOWN, 2008 und ANIMAL TOWN, 2009) beschreibt die grauen Tage und Wochen der Ankunft und des Einlebens der aus Nordkorea nach Seoul geflohenen Ree Jung-Nim (Ra Mi-ran), ehemalige Tennisspielerin in der nordkoreanischen Nationalmannschaft, welche sich in einer für sie komplett neuen Gesellschaft einfinden muss. Die Ohnmacht und Verletzlichkeit dieser einsamen Frau, die jeden Tag auf eine Nachricht ihres in Nordkorea zurückgebliebenen Mannes wartet, wird durch die schmucklose Ästhetik des Films unterstrichen, die die Beklemmung der Großstadt beinahe körperlich spürbar macht.
Auf der Suche nach Orientierung in ihrem neuen Leben, kreuzen sich die Wege der jungen Frau mit anderen mehr oder weniger einsamen Bewohnern der Großstadt: Ihre staatlich berufene Betreuerin Kim Soo-jin (Ju Yu-rang), deren Aufgabe nicht nur darin besteht Ree Jung-Nim in die südkoreanische Gesellschaft einzuführen und bei ihrer Eingliederung als neuer Bürger der Republik Südkorea zu unterstützen, lebt mit ihrer strenggläubigen methodistischen Mutter zusammen und hat finanzielle Schwierigkeiten. Seoul ist eine kapitalistische Stadt und wer darin überleben will, muss sich in dieses Arbeits- und Lebenssystem eingliedern. Um der durch die Flucht und die Unkenntnis über das Schicksal ihres Mannes traumatisierten Jung-Nim diesen Prozess zu erleichtern, bietet Soo-jin der verschlossenen Frau an, sie bei ihrem Nebenjob, der Betreuung alleinstehender und behinderter Menschen zu begleiten. Auf einer dieser Touren lernt Jung-Nim so den Behinderten Lee Jun-hyeok (Lee Jun-hyeok) kennen, der seine Zeit mit Haare färben, Computerspielen und Frauenfantasien verbringt. Zu ihm und zu dem Polizisten Oh Seong-tae (Lee Sul-gu), zwei gesellschaftliche Außenseiter, fühlt sich die einsame Frau hingezogen und sucht bei ihnen menschliche Nähe. So beginnt sie langsam eine Beziehung zu dem ebenso einsamen Seong-tae. Auch wenn die Figuren des Films im Bild zusammenkommen entsteht zwischen ihnen keine zwischenmenschliche Wärme: Jeder bleibt mit seinen Sorgen allein und die Isolation und Distanziertheit des Einzelnen wird nicht durchbrochen. Die Suche nach Nähe und Liebe bricht sich in aggressiv und verzweifelt wirkenden Liebesakten nieder, welche die Einsamkeit der Beteiligten dabei nur noch unterstreichen. Jung-Nim versucht sich ein neues Leben aufzubauen und kann dennoch ihren Mann nicht vergessen.
Die Klammer des Films bildet eine Szene – im Übrigen die einzige im ganzen Film, welche die Stadt in ihrer Ansammlung von Hochhäusern und somit als Außenansicht zeigt -, in der man die junge Frau am Rand einer Schnellstraße stehen sieht, an der sie sich übergibt. Im Film erklärt sich diese Reaktion als nervöse Übelkeit im Zusammenhang mit der Nachricht über die Hinrichtung ihres Mannes. Bezogen auf die Bilder der Großstadt, könnte man es auch ganz im Sinne des oben zitierten Georg Simmels als eine physische Reaktion auf die Reizüberflutung und Leere des städtischen Lebens deuten, die letztendlich und vollständig von der Hauptfigur Besitz ergriffen hat.
Der Regisseur Jeong Kyu-hwan selbst beschrieb seinen Film als Bild der Stadt Seoul, aber auch der Großstadt im Allgemeinen als einen Ort der Moderne, so wie ihn die Hauptfigur – eine Fremde unter Fremden – wahrnimmt. Auch wenn der Film versucht mehrere Schicksale mit dem seiner traurigen Heldin Jung-Nim zu verknüpfen, so bleibt er dennoch sehr an dieser Figur haften. Beinahe zu sehr, um noch behaupten zu können, es handele sich um eine Geschichte der Stadt, erst recht nicht von der Stadt Seoul, denn sowohl von der Stadt als Stadt oder von Seoul sehen wir, außer in der oben beschrieben Klammerszene beinahe nichts, außer dunkler Gassen und einiger Straßenzüge. Hauptbestandteil stellen die Innenräume dar: das Amt, in welchem man Jung-Nim bei ihrer Ankunft befragt, ihre Wohnung, die so viel Unpersönlichkeit ausstrahlt, wie ein Hotelzimmer, ihren Arbeitsplatz in der Wäscherei und die Kirche, welche der Mutter Soo-jins zum zweiten Zuhause geworden zu sein scheint.
Durch die vorherrschenden Innenansichten, geht der städtische Eindruck verloren. Was bleibt ist eher eine symptomatische Beschreibung der Stadt als Auslöser von Klaustrophobie und Ausdruck eines traumatisierten Innenlebens.
Eventuell ergäbe die Einordnung des Films in den Zusammenhang der Trilogie eine kohärentere Darstellung der Stadt Seoul und der Stadt als Stadt.
Von einer anderen Stadt auf einem anderen Teil der Welt handelt CRIMSON GOLD, ein Film des im Iran inhaftierten iranischen Regisseurs Jafar Panahi, diesjähriges Mitglied der Internationalen Jury der 61. Berlinale. Panahi gelang mit diesem Film ein weitaus überzeugenderes – wenn auch thematisch doch sehr verschiedenes – Porträt einer Stadt. Im Mittelpunkt seiner filmischen Reise durch die vor allem nächtlichen Viertel Teherans steht der durch eine Kortison-Behandlung übergewichtige Pizzabote und Gelegenheitsdieb Hossein (dargestellt vom Laiendarsteller Hossein Emadeddin). Ähnlich wie in ‚Dance Town‘ beginnt der Film mit seinem Ende: Bereits zu Anfang erfahren wir, dass die Hauptfigur sich in Folge eines misslungenen Ladeneinbruchs in ein Juweliergeschäft das Leben nehmen wird.
Hossein wird in Kürze heiraten, hat jedoch finanzielle Schwierigkeiten. Durch seinen Job und gelegentliche Handtaschendiebstähle versucht er sein Monatsgehalt etwas aufzubessern. Als er und sein Freund und Schwager Ali (Kamyar Sheisi) in einer gestohlenen Handtasche die Rechnung einer für sie unbezahlbaren Halskette finden, möchten sie dem Geheimnis dieses Schmuckstücks auf den Grund gehen und suchen besagten Juwelierladen im reichen Teil der Stadt auf. Aufgrund ihres Aussehens werden sie jedoch abgewiesen. Dieser Zwischenfall wird zum Schlüsselerlebnis für den jungen Hossein, der realisiert, dass er sich in einer gespaltenen Gesellschaft befindet, die ihm als Mitglied der Unterschicht einen Platz zuweist, welchen er zu akzeptieren zu stolz ist.
Bei seinen nächtlichen Auslieferungen durchlebt er die Paradoxien einer gespaltenen Stadt, welche sich im ständigen Aufbruch zwischen Tradition und Moderne, aber auch Arm und Reich oder Tag und Nacht befindet. Mit seinem Moped durchkreuzt er die iranische Hauptstadt und begegnet so auf seinen Touren durch die verschiedenen Viertel der Stadt einem alten Bekannten aber auch einer Polizeieinheit, welche eine Party zu sprengen versucht, auf der verbotenerweise getanzt wird. Hossein, über dessen Leben wir nur wenig erfahren, ist ganz Teil des Außenraumes der Stadt. Der Film zeigt kaum örtliche Innenräume und wenn er dies tut, dann nur um Gegensätzlichkeiten aufzuzeigen: Hosseins winzige Wohnung mit dem viel zu kleinen Bett wirkt beinahe wie eine Puppenstube neben dem Penthouse samt Swimmingpool und Dachterrasse eines neurotischen, reichen Iraners, welchen er bei einem seiner Botendienste trifft. Das Innere Hosseins ist quasi das Außen der Stadt.
Noch niemals habe er die Stadt von so weit oben gesehen, sagt er einmal. Nein, denn dieser Teil der Stadt, der nicht nur geografisch, sondern auch gesellschaftlich höher angesiedelt ist, ist nicht der Raum der einfachen Pizzaauslieferer, der schmutzigen Abgase und tödlichen Unfälle. Es ist der Teil in dem die obere Schicht der Bevölkerung, sich auf ausladenden Dachterrassen und riesigen, unbewohnten Wohnzimmern langweilt und ihren Depressionen hingibt.
Jafar Panahi zeichnet in CRIMSON GOLD eindrucksvoll ein Bild einer ambivalenten Gesellschaft, die sich im Aufbruch befindet. In einem Aufbruch, der eigentlich nicht mehr aufzuhalten ist, der jedoch auch seine Opfer fordert. Die von jeder ästhetischen Verfremdung freien Bilder, fangen den im Wandel begriffenen Raum der Stadt Teherans aus seinem Inneren heraus ein. Panahi gelingt es mit einfachen Mitteln, die komplexe Problemstellung seiner Hauptfigur darzustellen, ohne dabei sentimental oder wertend zu werden. Im Gegensatz zu Jeong Kuy-hwans DANCE TOWN gelingt es ihm, tiefer in seine Figur einzudringen obwohl er bildlich an der Oberfläche/dem Außenraum bleibt. Sein Film ist ein Stadtfilm, der über die einfache Darstellung der Isolation und Eingrenzung hinaus geht und nicht nur das Bild eines Einzelschicksals darstellt, sondern die Facetten eines Lebens im modernen Irans einfängt, weitab von Atomprogrammen und tödlich endenden Massendemonstrationen, sondern an der Momentaufnahme der wenigen letzten Tagen im Leben eines jungen Iraners.