Nach Oliver Stones WALL STREET: MONEY NEVER SLEEPS (2010) gibt es nun mit JC Chandors Wettbewerbsbeitrag MARGIN CALL einen weiteren Film der sich mit der internationalen Finanzkrise von 2008 und den Abgründen des Finanzmarktes befasst.
Als eines Abends der Analyst Peter Sullivan eine Analyse seines kurz zuvor gefeuerten Chefs Eric Dale überprüft, fällt ihm auf, dass die Bewertungen, auf denen das Geschäftsmodell der Firma beruht, fehlerhaft sind und die Aktiva im Hypothekengeschäft nicht dem Wert entsprechen, der in den Büchern vermerkt ist. Die Firma war daher in den vorangegangenen Wochen mehrmals dem Ruin nahe, ohne es zu wissen. Falls die Unstimmigkeiten ans Licht kommen sollten, würden die Verluste den Marktwert der Firma weit übersteigen und sie in den Ruin treiben.
Um nun die Aufdeckung der brisanten Informationen abzuwenden, beschließt man in der Nacht die betroffenen Papiere am kommenden Morgen abzustoßen und zu verkaufen. Eine Aktion, die somit nicht nur den Untergang der ganzen Firma bedeuten könnte, sondern auch schwerwiegende Folgen für die Wall Street und den gesamten Finanzmarkt haben würde.
Bei diesem aktuellen und spannenden Film könnte man anhand des Figurenverhältnisses sehr viel über den Zynismus, die Intrigen und die Machtgier der Firmenchefs sagen, die – um sich selbst zu retten – die Verantwortung für die Lösung des Problems lieber an die für sie arbeitenden Börsianer weiterleiten und dafür schonungslos auch deren persönlichen Untergang in Kauf nehmen.
Eine andere Betrachtungsweise scheint jedoch interessanter.
Von der ersten Minute des Films an, als die Verantwortlichen aus der Personalabteilung ankommen und beginnen verschiedene Mitarbeiter wegen Sparmaßnahmen zu entlassen, befällt den Zuschauer ein komisches Gefühl der Beklemmung. Spätestens als Analyst Peter Sullivan seinen Kollegen die Ausmaße des Problems vor Augen führt, wird dieses Gefühl stärker. Denn zu keinem Zeitpunkt im Film erhält der Zuschauer Zahlen, die ihm das Ausmaß des möglichen Börsencrashs verdeutlichen könnten. Der Blick auf die Bildschirme, auf denen Prognosen zu sehen sind, und in die Berichte, in denen die Zahlen stehen, bleibt ihm verwehrt und so erfährt er nur über die Dialoge das Ausmaß der Situation.
Umso bezeichnender scheint es, dass der erste Teil des Films sich fast ausschließlich nachts in den Büroräumen der Firma abspielt. Das Firmengebäude scheint wie eine einsame Insel im Meer einer ahnungslosen Großstadt und die Menschen in ihm die einzigen, die wissen, dass am kommenden Morgen von ihnen aus ein Sturm über die Finanzwelt hinweg ziehen wird. Die emotionale Spannung in der Firma steht somit im Kontrast zu dem sonst immer hektischen New York außerhalb des Gebäudes, welches im Film von den oberen Etagen ungewohnt ruhig und friedlich erscheint. Selbst die Kamera hält sich immer auf Distanz und gewährt dem Zuschauer zu diesem Zeitpunkt keinen tieferen Einblick in die Stadt.
Symbolisch für diesen Kontrast scheinen auch zwei weitere Szenen zu sein:
Als die Analysten Peter Sullivan und Seth Bregman auf der Suche nach dem ehemaligen Chef Eric Dale mit dem Auto durch das nächtliche New York fahren, erscheinen die Menschen auf den Straßen, die vom bevorstehenden Finanzcrash an meisten betroffen sein werden, nur als Reflexion auf der Fensterscheibe des Wagens. Selbst in einem kurzen POV von Sullivan, erscheinen sie nur als undefinierbare Konturen ohne Gesicht.
Interessant erscheint auch die zweite Szene, als Sullivan nachts kurz das Gebäude verlässt, um der Enge und Beklemmung des Büros zu entkommen und durch die Straßen läuft. Instinktiv kapselt er sich von der Außenwelt ab, in dem er sich die Kopfhörer ins Ohr steckt und seinen MP3-Player anstellt, so als ob er, vorsätzlich oder nicht, nichts mit der Welt zu tun haben will. Auch die Tonebene verstärkt diesen Eindruck, da man auch hier nicht die Geräuschkulisse des sonst immer aktiven New Yorker Nachtlebens hört.
Der Film lässt den Zuschauer am Ende mit dem Gefühl einer von der Realität abgekapselten, für sich selbst arbeitenden und unersättlichen Finanzwelt zurück. Umso bezeichnender daher die Kameraeinstellung auf Firmenchef John Tuld, der nach Börsenschluss in der höchsten Etage an einem Fensterplatz im etwas steril wirkenden Vorstandsesszimmer sitzt und dessen Figur einen Kontrast zu dem sich im Hintergrund erstreckende New Yorker Stadtpanorama bildet, über das er am Morgen den Sturm losgelassen hat und dessen Ausmaße in diesem Moment noch nicht klar sein können.