Accretion (lat. accretio „Zunahme“) bedeutet etwa „Wachstum durch Anlagerung“ und bezeichnet in der Astronomie einen Vorgang, bei dem ein kosmisches Objekt Materie aufgrund seiner Gravitations- und Adhesionskräfte aufsammelt.
„Accretion“ ist Tanz und Installation der spanischen Tänzerin und Choreografin Eliza Fernández Arteta. Das Stück stellt die Frage nach dem Raum, dem Körper, der Bewegung des Körpers im Raum, nach dem Tanz und seiner inhärenten Disziplinierungsmechanismen, der Medialität von Tanz sowie der Funktion von Choreografie. Es etabliert und reflektiert Dichotomien der Norm gegenüber der Abweichung und dem Wahnsinn, der Bewegung und der Statik.
Das Stück befragt den Tanz und die Sprache des Tanzes. Die Sprache des Tanzes erweist sich jedoch per se als eine Negation von Sprache, realisiert sich diese doch in den choreografierten Figuren der tanzenden Körper. (Vgl. Mersch 2007: 269) Der Körper jedoch spricht nicht – er zeigt sich durch den Tanz. (Vgl. Mersch 2007: 269) „Accretion“ ist gewissermaßen der sich zeigende Körper und etabliert dadurch eine negative Praxis der Choreografie, also der ‚Tanzschrift‘, indem sie den Tanz ent-zeichnet und diesen von der Diktatur der Tanz-Figur befreit und somit zu einer Art reinen Corpografie zu werden scheint.
Choreografie und Dressur der Körper
Der klassische Tanz wird vor allem durch das Bild und seine Figuration in der Choreografie beherrscht: Choreografie bezeichnet hierbei die Codierung von Bewegung anhand der Metrisierung der Zeit durch die Bestimmung der Schrittfolgen und ihrer Lokalisierung im Raum mit einem festen Formenkatalog, der den Tanz dem Text angleicht und diesen lesbar macht. (Vgl. Mersch 2007: 277) Der Körper unterliegt hierbei einer Ordnung von Technologien, die durch die Gesetze der Figuration geregelt wurden, um den Körper ganz in den Dienst derselben zu stellen und als Körper zurücktreten zu lassen. (Dressur, Rationalisierung) Verkörperung wird zu Ent-körperung. (Mersch 2007: 275)
Der Raum ist im klassischen Tanz dementsprechend ein Illusionsraum, der, ähnlich der kinematografischen Projektionsfläche, einerseits auf seine Materialität, das heißt, die Bühne oder entsprechend die Leinwand, bezogen bleibt und diese im gleichen Zuge verleugnet. Der Raum bildet im klassischen Tanz das Koordinatensystem innerhalb dessen die Choreografie etabliert wird und das den Tanz mit den Blickachsen der Betrachter in Beziehung setzt, jedoch gleichzeitig die Blickrichtung vorgibt. (Blickregime) (Vgl. Mersch 2007: 274ff)
„Accretion“ wirft den Tanz auf seine Grundelemente zurück: Raum/Licht, Körper, Bewegung/Zeit und Musik/Rhythmik und ermöglicht somit ein Hinterfragen dieser Elemente durch deren negative Interpretation: „Accretion“ ist ein Tanz der durch seine negative Figuration, der Statik seiner Bewegungen durch die Unbewegtheit der körperlichen Extremitäten, den Raum durch den Körper nicht einzunehmen weiß und doch den Raum ausfüllt. Der Körper wird als Körper inszeniert und befreit diesen vom Diktat der Figur. Indem der Körper als Körper zutage tritt – das Medium als Medium – vermag dieser über die Medialität des Tanzes zu reflektieren.
Der Körper scheint hinter der Bewegung zurückzutreten, um umso deutlicher ins Bewusstsein zu treten, sich geradezu aufzudrängen:
„Entsprechend beinhaltet die Ästhetik der Minimierung keine choreografische Figurenlehre, auch wenn sie durch und durch narrativ verfährt, sondern vornehmlich die Manifestation ihrer selbst und ihrer medialen Prinzipien.“ (Mersch 2007: 272)
Die Bewegung des Körpers befreit sich von der Metrisierung der Zeit und dem Koordinatensystem des Raumes, um als reine, anwachsende und schrumpfende, Bewegung einen ‚Riss in der Figur‘ (Mersch 2007: 278) zu produzieren:
„[D]er Tanz lebt nicht von seiner Narration, die ihn verstehbar macht, sondern von der Performativität der Bewegung selbst, die sich jeder Einverleibung durch ein Symbolisches, wie Imaginäres sperrt.“
(Vgl. Nikolais, Alvin in: Mersch 2007: 278)
„Accretion“ vermag durch seine choreografisch-körperliche Minimierung die Elemente des klassischen Tanzes aufzudecken und zu hinterfragen: die Disziplinierung und das Verständnis des Körpers als Apparat, die Wiederholung, welche von der blinden Sicherheit der Schritte abhängt, sowie die Grammatik der Figuren, deren Ziel die Überwindung der Widerständigkeit des Körpers sein soll. (Vgl. Mersch 2007: 278)
Void of sickness
Im klassischen Tanz bildet die Musik die Dominante des Tanzes, die diesen sowohl ermöglicht als auch durchdringt. (Vgl. Mersch 2007: 278) Dabei bildet der Rhythmus das disparate und sprengende Element des Musikalischen, das Widersprüchliche des Tanzes. (Vgl. Mersch 2007: 278) Er bändigt den Körper, welcher lediglich auf ihn reagiert. Und dennoch birgt der Rhythmus die Möglichkeit der Auflehnung der Körper gegen die Diktatur der Figur in sich, indem er den Körper in Spannung versetzt, die einerseits der Realisierung der Figur zugute kommt, andererseits jedoch das Unbändige des Tanzes in sich trägt, das tendenziell jeder Disziplinierung gegen läuft:
„Dennoch ist es gerade die diktatorische Rhythmik, die das Regime der Figuren gleichermaßen anführt wie bricht: weil sie ihre Macht im Körperlichen entfacht, avanciert dieser zum Ort ihrer exemplarischen Vollstreckung, dessen vermeintlicher ‚Gehorsam‘ ein ‚Gehören‘ ist. Es gehorcht nicht, sondern überlässt sich bis zur Anarchie.“
(Vgl. Mersch 2007: 279f)
„Void of sickness“ (wörtlich: ‚Leere der Krankheit‘), das Musikstück, stellt die Frage nach der Abnormität, der Krankheit und dem Wahn. Das schrittweise Anschwellen der Musik, die in ihrer aggressiven Realisierung für den Zuhörer beinahe körperlich unangenehm wird, scheint den Körper der Tänzerin in Schwingung zu versetzen, gleichsam am Ursprung der Bewegung zu stehen. Die Musik scheint den Körper zu besetzen, der Auslöser der schrittweise aus ihm herausbrechenden Bewegungen zu sein und eine physische Besessenheit auf dem Körper auszutragen, die in diesem jedoch erst zu ihrer Vollendung zu kommen scheint. Musik und Körper können nicht ohne einander existieren. Der Körper unterliegt nicht einem Diktat der Musik, Musik und Körper scheinen im Gegenteil zu etwas Neuem zu verschmelzen, zu einem Klang-Körper.
Videodanza
Tanz im Film kann kann als Darbietung der Mittelbarkeit/der Medialität des Tanzes verstanden werden, als ein „Sichtbar-Werden des Mittels als einem solchen“. (Agamben, Giorgio in: Köhler 2009: 48).
Bei „Accretion“ wird durch die Aufzeichnung der Grundelemente des Tanzes – des Raumes/des Lichts, der Bewegung, des Körpers und der Musik – der Tanz als solcher reflektiert und transformiert. Der Film ist der Aufführung nicht hierarchisch untergeordnet oder vorgelagert, das Stück hat keine Aufführung außerhalb des Films. Durch die beinahe komplette Reduktion filmisch-gestischer Bewegungen (kein Schnitt, keine Kamerabewegung, keine Montage) birgt „Accretion“ die Möglichkeit eines gestischen Films in sich (Vgl. Köhler 2009: 48).
Geste hier in dem Sinne, in dem auch Giorgio Agamben den Begriff geprägt hat:
„[N]icht nur eine Körperbewegung […], sondern eine spezifische Form der Medialität, in der sich die Verweisbewegung auf einen äußeren Referenten nur noch andeutet […].“
(Vgl. Agamben in: 2009: 48)
„Accretion“ ist Film und Tanz in einem und gleichzeitig keines von beiden. Es ist ein Tanzfilm ohne Tanz, ein Körper der nur Körper ist, Bewegung, die nur Bewegung ist und gleichzeitig ein Film, der nicht Film ist, der reduziert ist auf ein Bild, das Körper, Bewegung und die Projektion von Raum ist, der kein Raum zu sein scheint.