Kill Your Darlings

Vic + Flo haben einen Bären gesenen von Denis Côté

Der dritte Spielfilm des kanadischen Regisseurs und Kritikers Denis Côté ist ein virtuoses Spiel mit den Grenzen. Während er mit dem dokumentarischen Essay(tier)film Bestiaire (62. Berlinale, Forum) die Ränder des nicht-narrativen Erzählens auslotete, macht er mit Vic+Flo haben einen Bären gesehen nun eine sowohl erzählerische als auch formale 180-Grad-Wendung.

Vic + Flo haben einen Bären gesehen

Die ehemalige Gefängnis-Insassin Victoria (Pierette Robitaille) zieht nach abgesessener Haft zu ihrem senilen und pflegebedürftigen Onkel Emil in eine Hütte abseits vom städtischen Trubel. Dort will die Mitsechzigerin ihren Lebensabend in Abgeschiedenheit und mit Florence (Romane Bohringer), ihrer Geliebten aus Gefängniszeiten, ausklingen lassen. Die junge und nicht unattraktive Flo jedoch fühlt sich von Vic eingeengt. Auch Männer scheinen sie nach der gemeinsamen Zeit im Gefängnis wieder zu reizen. Neben den lästigen Besuchen des distanzierten, aber nicht unsympathischen Bewährungshelfers Guillaume (Marc-André Grondin) haben die Frauen nicht viel mit ihrer Umgebung zu tun. Dann taucht plötzlich Jackie auf, die mit Flo eine schier untilgbare Rechnung offen zu haben scheint.

Bald wird auch klar, dass die Bewohner des ländlichen Idylls die beiden doppelt marginalisierten Frauen misstrauisch beäugen. Der scheinbar besorgte Nachbar, dessen Sohn Onkel Emil vor Victorias Ankunft pflegte, lässt den alten Mann in ein Heim einweisen. Man mutmaßt, dass der Zustand des Onkels sich unter der Obhut von Vic und Flo verschlechtert habe. Erst Tage nach seiner Beerdigung erfährt Vic vom Tod des Onkels. In diesen Momenten blitzt das Herzstück der Story auf: Victorias Sehnsucht nach Ruhe wird immer wieder von der Außenwelt gestört, ihre gesellschaftliche Randposition wird deutlich, und wir empfinden ihr gegenüber Empathie, selbst wenn (oder gerade weil) ihr Vergehen den gesamten Film hindurch unerklärt bleibt.

Der Bewährungshelfer, anfänglich für Vic und Flo die Inkarnation des bösen Staatsapparates, wird allmählich zum Verbündeten. Gerade hier zeigt sich Côté mit schlagfertigen, geistreichen Dialogen von seiner humorvollen Seite. Der Regisseur sah seine Herausforderung bei Vic+Flo vor allem in der Arbeit an den Dialogen. Während sein letzter Film Bestiaire gänzlich ohne solche funktionierte, sind sie für seine aktuelle, kammerspielartige Arbeit essenziell. Auch das tragende Spiel der in Quebec bekannten Komödiantin Pierrette Robitaille und der französischen Schauspielerin Romane Bohringer sorgt dafür, dass der Film – trotz seiner Sprünge – nachvollziehbar bleibt.

Wenn man will, ist das blutige Ende durchaus von schwarzem Humor durchtränkt. In selbstreflexiver Manier wird das Genre kolportiert und der Zuschauer vor den Kopf gestoßen, wenn beide Protagonistinnen dem Bösen schlechthin in die Falle gehen: ein Böses, das nicht weiter psychologisiert wird, sondern einfach durch und durch böse sein darf. Zuallerletzt – insgesamt endet der Film gefühlte drei Mal – wird uns die auf der Erde liegende Flo schmutz- und blutverschmiert mit dem Satz „C’est fini“ verabschieden und uns erinnern: „Ich bin ein Film – also erwarte keinen Sozialrealismus von mir!“

Dafür darf man Denis Côté dankbar sein. Selten hat ein Film auf so organische und humorvolle Weise die eigenen Grenzen offengelegt, dabei dennoch Aussagen über gesellschaftliche Probleme aufgeworfen und zugleich gut unterhalten. Chapeau!

Dieser Artikel erschien erstmals auf critic.de

Filmtitel: Vic+Flo haben einen Bären gesehen
Produktionsjahr: 2013
Produktionsland: Kanada
Originaltitel: Vic+Flo ont vu un ours
Regie: Denis Côté
Drehbuch: Denis Côté
Kamera: Ian Lagarde
Schnitt: Nicolas Roy
Ton: Frédéric Cloutier
Darsteller: Pierrette Robitaille, Romane Bohringer, Marc-André Grondin
Filmlänge: 90 Minuten
Format: DCP
Produktion: La maison de prod, Metafilms
Verleih: Edition Salzgeber