Dunkelheit und unförmig, ungleichmäßig rhythmisierte Lichtpunkte schwanken in ohrenbetäubendem Knarzen, Knirschen, Dröhnen und Rauschen. Schließlich gibt ein Schwenk nach rechts eine rostrote Fläche frei. Wellen, Unmengen von Wasser. Windgischt. Eine blaue Gummihandschuhhand als erstes Zeichen menschlicher Anwesenheit. Undeutliches windverzerrtes, dumpfes Männergeschrei. Ein armdickes Tau wird um eine Winde geführt. Wenn nun der Arm bei dem Wellengang dazwischengerät…
LEVIATHAN beginnt mit einer raumzeitlichen Orientierungslosigkeit. Die Materialität des Bildes und die Rhythmisierung von Licht und Form findet nun ihr indexikalisches Schicksal auf einem Fischkutter bei Nacht. Die Dunkelheit hat Schemen einer Ladefläche und Taue von Fangnetzen freigegeben. Die physische Tortur des nächtlichen Atlantik-Fischfangs schreibt sich in die kaum unterbrochenen, wackligen Weitwinkelbilder ein, deren ruinöse Körnung Wasser und Fische in den Kinosaal spült. Aus der aufgewühlten melvilleschen See werden Netze halbautomatisch, halb mit Menschenhand an Schiff gezogen und auf der Ladefläche geöffnet. Das Netz gibt massenhaft zappelnde Fischleiber frei, die nun ortlos im Rhythmus der Wellen über Deck hin-und-her gleiten. Auf Schuhhöhe geben die halbtoten Fische pulsierende Kiemenbewegungen von sich, winden sich zappelnd von keinem Ort zu keinem Anderen. Die Nähe der Augen und Schuppen der Fische, die Gischt, das wasserüberschwemmte Deck, auf dem alle Bewegung vom Schwanken in den Wellenbergen und einer versuchten Handkamerastabilität auf Knöchelhöhe dominiert ist, hat eine überwältigende Wirkung.
Ein Gummistiefel gibt sich den Weg durch die Fischleiber frei. Ein Griff, ein Schnitt: Fischleiber ins Körbchen, Köpfe ins Kröpfchen. Eine Holzplanke trieft sirupblutend aus allen Maserungen. Keine Gischt, die der Mundwinkelzigarette im Weg stünde. Ob in den Gummihandschuhen auch ein Eisennetz als Schutz vor möglichen Fehlschlägen der Fischmachete steckt? Fischleiber aufgeschnitten, ausgespült, ab in den Korb, Rest auf´s Deck und weg. Durch eine metallzahnmaulige Öffnung an der Seite des Schiffes werden die abgehackten und ausgespülten Kopf- und Organreste ins Meer gewischt. Mehr als einmal gerät der blutige Resteabfall ins Visier der wellenumspülten und teils bugbefestigten Kamera. Das Eintauchen ins Meer – Hort befreiender Utopien für Science-Fiction Szenarien über Unterwasserzivilisationen (SeaQuest 2032, 20.000 Meilen unter dem Meer) – gibt hier nur das gleiche Bild ab, wie auf dem Schiffsdeck: unbrauchbare Seesterne, triefende Fleisch- und Organklumpen, Fischblut in der Meeresgischt auf dem Weg in den Möwenmagen oder auf den Meeresgrund. Der rötliche Ausguss ins Meer ist der Möwen Festmahl. Horden von fischkutterlichtgefluteten Gefiedergespenstern gleiten geduldig sicher ihrer Beute über der tosenden See.
Selten gibt der Film Übersichtseinstellungen frei, in denen Handlungen aus einer sicheren, stabilen Distanz wirklich beobachtet werden können. Einmal ist es das Entladen der seitlich eingefahrenen Netze, die Muscheln ans Deck spülen; ein anderes Mal ist es ein Fischer hinter einem Fenster, der selbstvergessen hinausschaut. Der Perspektivmodus betont ansonsten vor allem Nähe, die subjektive Beteiligung am Geschehen und die Instabilität der eigenen Position. Der Film entledigt sich einer Illusion souveräner Beobachtung eines Geschehens und erteilt einer Distanznahme vom Geschehen und einem Nicht-Eingreifen in die Situation eine Absage. Der integren Beobachterrolle ist gleich in der ersten Einstellung jegliche Konsistenz genommen. Stattdessen ist das Interagieren, das Eingreifen, das Mitarbeiten, die Handarbeit und Eigenpräsenz eigentliche Bedingung für den Film.
In durchaus didaktischer Intention wird das Einholen der Netze, das Entladen der Fische, das unsentimentale, fließende Machetenschwingen, die Resteselektion und das Ausspülen in die See serialisiert. Im Innern werden die Fische gelagert, die Muscheln geknackt, der Körper kurz aus der Ausgezehrtheit geholt. Dass sich in diese Serialität des Fischfangs Variationen einschreiben liegt eher an der Physis der Fischleiber. So passt man sich bei der Tötung der Rochen beispielsweise ihrer Form an: mit dem Haken in einer Kopföffnung hochgezogen, zweiter Haken in eine Flosse, zack: mit dem Machetenmesser die Flossen von den Leibern getrennt und ab in den Korb. Die flossenlosen Rochenleiber werden mit teils noch pulsierenden Kiemen aufs Deck, durch das Metallmaul ins Meer geworfen. In einer anthropomorphisierten Variante eines virtuellen Bildes gesellt sich ein nackter, gliederloser Menschenleib auf einem Rumpfhaufen dazu.
Die valorisierbaren Fischkörper werden durch eine Luke ins Innere des Schiffes per Hand heruntergelassen und unten entgegengenommen. In einer besonders eindrücklichen Einstellung ist erst nach kurzem Zögern der Struktur des Bildes zu entnehmen, dass es sich um Haut, Männerhaut, tätowierte Männerhaut handeln muss. Augen – in den Fokus geraten nun eher tief aufgeschwollene Tränensäcke voller Schlaflosigkeit, in denen ein dumpfes Augenpaar stiert. Faltig, meergegerbte Porenhaut schwitzt sich im Innern des Schiffes während einer Arbeitspause aus. Heavy-Metal-Musik, die Nähe der Handkamera im unruhigen Wellengang, die faltige Porigkeit der unförmigen Gedunsenheit des Männergesichts lassen eine ununterbrochene Zerrüttung aufblitzen: gibt es Pausen auf See? 10 bis 14 Tage, so verriet Véréna Parabel nach dem Screening, sind die Kutter in der Regel auf See. Der ununterbrochen laufende Motor, der Wellengang, die gefährliche Arbeit und die physische Ausgezehrtheit nach bis zu 20h Arbeit lassen in den übrigen 4h höchstens das Aussetzen sämtlicher Orientierung gebender Sinne registrieren: Zeit und Raum sind begrifflos geworden, Müdigkeit die Regel und Gedankenfassen eine Unmöglichkeit. In einer der wenigen stabilen Halbtotalen sitzt einer der Fischer nach einer Mayonnaise-und Gurkenbrotmahlzeit am Tisch und lässt sich von TV-Spots berieseln, während er von ihm selbst unbemerkt einnickt. Ein fast ikonisches Bild das den von Müdigkeit überwältigten Männerkörper zeigt, wie er in sich zusammensackt. Mein Mich, das Meer und die Müdigkeit. Abblende.
Was in die Fangnetze gegangen ist, wird nur in seinen unbrauchbaren Resten wieder entlassen. Die fast wortlose Geisterarbeit bei Nacht, die sich wiederholenden Handgriffe produzieren blutentleerte Fischleiber, Schiffsrümpfe, Männergesichter. Physisches Leben: das ist hier vor allem in der Möwenluft und in den pulsierenden Kiemen. Die allegorische Dimension des Films sei unbenommen und weist zielsicher in viele Richtungen (Apokalypse, Moby Dick, Holocaust), jedoch erweist sich gerade die brachiale Wuchtigkeit des Sounds (aus unbekannten Gründen wurde der Film nicht mit Dolby-Surround-Sound im Kino 8 des CineStars projiziert) und die Materialität des Bildes als der nassfeuchte Raum für die Zuschauerimmersion. Die Fischschuppen werden zur Oberflächenutopie eine Filmimmersion.
Leviathan zeigt physische Erfahrung und setzt dabei auf Nähe, die Taktilität des Bildes und Interaktion. Moralisch positioniert er sich zwischen einem nautisch gewendeten Alptraum eines surrealistischen Schlachthofs und der pädagogisch-tänzerischen Einfühlsamkeit eines Jean Painleves. Was Painleve in ästhetisch überhöhter Didaktik zum Tanzen bringt, stirbt in Leviathan seinen neokapitalistischen Massentod. Zynisch wäre es, nach diesem Film Sushi essen zu gehen.