Die Deutsche Kinemathek widmet einem der ganz großen US-amerikanischen Cineasten und Filmästheten, dem Regisseur Martin Scorsese, die weltweit erste ausführliche Ausstellung über sein Lebenswerk.
Der Gang durch die Ausstellung beginnt mit einem Film aus dem Frühwerk des Regisseurs: THE BIG SHAVE aus dem Jahre 1967. Der Kurzfilm, der noch während seines Filmstudiums an der Tisch School of the Arts an der Universität in New York entstanden ist, zeigt bereits ein gewisses ästhetisches Wohlgefallen am großzügigen und Einsatz von Kunstblut und lässt ein verstecktes Talent für den Splatterfilm erahnen… In dem Film sieht man einen jungen Mann, der bei der Gesichtsrasur die Klinge so fest führt, dass er sich immer wieder schneidet, bis sein Gesicht und das Waschbecken komplett blutüberströmt sind und sich das Filmbild schließlich rot verfärbt. Der Film, der auch unter dem Titel VIET’67 bekannt ist (die Ausstellung unterschlägt diesen jedoch), war als Kommentar zum Engagement der USA im Vietnamkrieg gemeint und auch wenn er nur kurz ist, kann man an ihm schon vieles ablesen, was sich in zahlreichen Filmen Scorseses immer wieder finden lässt: die Inszenierung körperlicher Gewalt als ästhetisches Mittel zur Darstellung eines psychologischen Zustandes.
Die Werkschau funktioniert wie eine anatomische Studie des filmischen Universums von Martin Scorsese, in der sowohl persönliche – quasi-reliquienhafte – Elemente, wie der Esstisch und die Wanddekorationen aus seinem elterlichen Wohnzimmer, als auch Filmausschnitte, Storyboards, Drehbücher mit eigenen Notizen, Kostüme und Ausstattungsgegenstände aus seinen Filmen sowie künstlerische audiovisuelle Installationen zum Filmschaffen des Regisseurs ihren Platz finden.
Die Untersuchung der zahlreichen, sich häufig wiederholenden Motive in den Filmen Martin Scorseses, führt zunächst ins Wohnzimmer der Scorseses und zur persönlichen Lebens- und Familiengeschichte des Regisseurs. Der Sohn italienischer Einwanderer, der in New York aufwuchs, und ein sehr kränkliches Kind war, entdeckte schon früh seine Leidenschaft für das Kino. Seine frühen Filme der 1970er Jahre drehten sich fast ausschließlich um New York, Little Italy, die Kriminalität und die Mafia sowie das Leben italienischer Einwanderer in der Stadt. Seinen Eltern, Catherine und Charles Scorsese, widmete er 1974 den Dokumentarfilm ITALIANAMERICAN und auch in seinen späteren Filmen ließ er seine Eltern immer wieder in Nebenrollen auftreten. Auch seine teilweise schwierige Beziehung zu seinem älteren Bruder Frank oder zu den Frauen – Scorsese war ganze fünf mal verheiratet, unter anderem auch mit der italienischen Schauspielerin Isabella Rossellini – verarbeitete er in seinen Filmen, in denen es meist um sehr einsame Individuen in einer männlich geprägten Welt geht, für deren Emotionalität es keinen Platz zu geben scheint. Auch wenn Scorsese, dessen Berufswunsch es auch einmal gewesen war katholischer Priester zu werden, sich dann ab den 1980er Jahren immer mehr auch anderen Themen zuwandte, wie beispielsweise dem Zusammenhang zwischen dem Menschsein und der Spiritualität in THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (1988) oder KUNDUN (1997), blieb er in seinem gesamten Filmschaffen seiner Heimatstadt immer treu und gilt neben Woody Allen als einer der großen Chronisten der Stadt.
Höhepunkt des ersten Ausstellungsteils bildet dementsprechend auch eine Installation über die Stadt New York, mit deren Geschichte sich der Regisseur unter anderem auch in THE AGE OF INNOCENCE (1993) oder in GANGS OF NEW YORK (2002) auseinander setzte. In einer vitrinenartigen, die Lichter der Großstadt evozierenden, Wandinstallation mit leuchtenden Filmplakaten und Werbetafeln seiner bedeutendsten New York-Filme sind unter anderem auch Requisiten und Kostüme aus dem hauptsächlich in Cinecittà in Italien entstandenen Film GANGS OF NEW YORK zu sehen. Sein geografisch beinahe schon pedantischer Bezug zu ganz bestimmten Stadtteilen oder Häuserreihen, die immer wieder die Kulisse seiner Filme bildeten, wird anhand eines abstrakten, raumgreifenden Stadtkartenmodells und den dazugehörigen Filmausschnitten, in denen genau diese Straßenecke oder jene Häuserreihe immer wieder zu sehen sind, belegt. Die filmisch-fotografische Beobachtungsgabe, die hinter dieser Installation steckt, ist nachhaltig beeindruckend und lässt den emotionalen Bezug des Regisseurs zu seiner Stadt nachvollziehbar werden.
Im zweiten, eher technischen Teil der Ausstellung, geht es um die filmästhetischen Aspekte in Scorseses Werken: den Schnitt, die Kamera und die Musik.
Thelma Schoonmaker, Cutterin aller Scorsese-Filme seit RAGING BULL (1980) hat ihm mit ihrer präzisen und virtuosen Arbeit am Schneidetisch zu seiner individuellen Handschrift verholfen. Schoonmaker ist es, die der Gewalt in den Filmen Scorseses durch ihre rasanten Schnitte, welche sich immer wieder mit verlangsamten Slow-Motion-Bildern abwechseln, zu ihrem besonderen Rhythmus verholfen hat. Für Scorsese, der bereits als kleiner Junge Schallplatten sammelte, spielt die Musik seiner Filme eine wichtige Rolle. Einigen Musikern, wie beispielsweise den Rolling Stones, Bob Dylan oder auch George Harrison widmete er sogar ganze Dokumentarfilme über deren musikalisches Schaffen, wovon einige Ausschnitte auch in der Ausstellung zu sehen sind. Was die präzise und teilweise beinahe psychologische Kameraarbeit der Scorsese’schen Filme angeht, so zeichnen dafür vor allem zwei Männer verantwortlich: Michael Ballhaus, der mit Scorsese unter anderem für THE COLOUR OF MONEY (1986), THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (1988), GOODFELLAS (1990) und THE DEPARTED (2006) zusammenarbeitete, und Robert Richardson, der auch viel für Oliver Stone und Quentin Tarantino gearbeitet hat und für Scorsese unter anderem CASINO (1995) und SHUTTER ISLAND (1995) drehte.
Scorsese, der Perfektionist, der jeden Shot, jeden Blickwinkel und jede Kamerafahrt vor dem Dreh in seinem Storyboard fest legt, dreht im eigentlichen Sinne keine Filme, er komponiert sie eher. Endlose Kamerafahrten, Kameratänze mit seinen Figuren oder auch um diese herum, wie beispielsweise jene Szene mit Tom Cruise am Billardtisch in THE COLOUR OF MONEY (1986), durchbrochene Perspektiven durch ungewöhnliche Kameraeinstellungen, abwechselnde Schnitt-Tempi und die Wahl der Musik, machen aus seinen Filmen präzise durchdachte Gesamtkunstwerke, bei denen Kamera, Schnitt und Musik eine künstlerische Allianz eingehen, die die Psychologie seiner Figuren sowohl auf der erzählerischen als auch auf der technischen Bildebene nachvollziehbar machen.
Auch wenn der filmästhetische Teil der Ausstellung ein wenig zu kurz kommt, es ruhig mehr Filmausschnitte zur Kameraarbeit oder zum Schnitt hätte geben können und die Bedeutung der Musik für das filmische Schaffen Martin Scorseses etwas ausführlicher hätte behandelt werden können, wird hier dennoch ein sehr umfassendes Bild eines der bedeutendsten Filmemacher der Gegenwart gezeigt. Die zahlreichen Privatfotografien, Drehbücher und selbst gezeichneten Storyboards geben, zusammen mit den Kostümen und Ausstattungsgegenständen aus den Filmen sowie den zahlreichen Filmausschnitten, ein breites Spektrum der Lebens- und Arbeitswelt des Regisseurs wider.
Ende der Ausstellung bildet eine riesige Leinwandinstallation für die allein es sich eigentlich schon lohnt, diese zu besuchen. Auf mehreren Leinwänden werden verschiedene Filmszenen aus Scorseses umfassendem kinematografischen Schaffen gegenüber- und nebeneinandergestellt. Durch die zeitlich verschobene Aufeinanderfolge der immer gleichen Einstellungen auf den verschiedenen Leinwänden, aber auch die Gegenüberstellung zahlreicher, sich in verschiedenen Filmen wiederholenden Bildmotive, werden neue Perspektiven und Bildzusammenhänge eröffnet.
Die Größe der Leinwände sowie die audiovisuelle Komposition der Stücke macht aus diesem letzten Teil der Ausstellung einen absolut hypnotisch-immersiven Höhepunkt, der noch einmal das Repertoire des Scorsese’schen Filmuniversums und seine psychologisch-präzisen Bildkompositionen Revue passieren lässt und Lust auf seine alten Filme macht, aber auch Vorfreude auf das weckt, was noch kommen mag!
Als kleinen Leckerbissen für die noch Unentschlossenen gibt es hier zum Abschluss noch eine Videobotschaft von Martin Scorsese, der es leider nicht persönlich zur Eröffnung der Ausstellung in der Deutschen Kinemathek am 9. Januar 2013 nach Berlin geschafft hat: