Filmisches Sehen

Ein Gastbeitrag von Anna Luise Kiss zu Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“

„Das kunstseidenen Mädchen“ von Irmgard Keun (2009, List Taschenbuch Verlag). Mit freundlicher Genehmigung der Ullstein Buchverlage GmbH

„Das kunstseidenen Mädchen“ von Irmgard Keun (2009, List Taschenbuch Verlag). Mit freundlicher Genehmigung der Ullstein Buchverlage GmbH

Mit Beginn der Moderne wurde die Großstadt zu einem wichtigen Themenbereich der Literatur und dabei nicht allein als Handlungsort sondern als Topos aufgegriffen: Die Metropole verkörperte kein „rationales, vernünftiges Ordnungsmuster“ [1] mehr, sondern wurde als ein immer unüberschaubareres, facettenreiches Erzählgebiet wahrgenommen, das den beschleunigten industriellen, wissenschaftlichen, technologischen, politischen und sozialen Wandlungsprozess selbst ausdrückte. Für Autoren wie Alfred Döblin, Bertolt Brecht oder Erich Kästner stellte insbesondere das Kino und der noch junge Spielfilm eine wichtige Inspirationsquelle bei der künstlerischen Erfassung der neuen urbanen Welten dar. Sie adaptierten in ihren Werken die Erzählstrukturen ebenso wie die formalen Mittel des Films, da sich das Wesen dieses Mediums als besonders geeignet erwies, den dynamischen Charakter de großstädtischen Daseins zum Ausdruck zu bringen.

Zu diesen Autoren zählt auch Irmgard Keun. „Gilgi – eine von uns“, ihr erster, viel beachteter Roman, wurde 1931 veröffentlicht, ein Jahr später folgte „Das kunstseidene Mädchen“ und wurde zu  einem umjubelten Erfolg. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung setzten die Nationalsozialisten das Buch jedoch auf den Index die Autorin ging ins Exil, wo sie weitere Romane verfasste (u.a. „Nach Mitternacht“ und „Kind aller Länder“). Nach Deutschland 1940 zurückgekehrt, lebe sie in der Illegalität und konnte nach Kriegsende nicht mehr, an ihre früheren Erfolge anzuknüpfen.

In ihrem bekanntesten Werk, dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ nutzt Irmgard Keun verschiedene, dem Film entliehene Gestaltungsmittel, um die Großstadt Berlin gleichsam in „bewegten“ Bildern darzustellen –  ein Ansatz, der seinen stärksten Ausdruck in dem medial orientierten Blick der Protagonistin Doris auf die Stadt findet, den die Autorin zugleich kritisch reflektiert.

Auf nach Berlin – bewegt und hellwach …

Spätsommer 1931. Die achtzehnjährige Ich-Erzählerin Doris kommt aus einfachsten Verhältnissen. Doch Doris hat ein klares Ziel vor Augen: Sie will sich aus ihrem Milieu befreien, ein „Glanz werden, der oben ist“ [2]; ein Filmstar, der unantastbar im dunklen Kinosaal von der Leinwand auf die (einfachen) Zuschauer hinunterstrahlt. Der Versuch, als Schauspielern an einem Kölner Theater Karriere zu machen, misslingt. Nach dem Diebstahl eines kostbaren „Fehs“ (eines Mantels aus Eichhörnchenpelz) aus der Theatergarderobe entzieht sich Doris ihrer drohenden Verhaftung, indem sie sich nach Berlin absetzt: Eine Flucht nach vorn, so hofft sie. Hier wird sie ihrer glanzvollen Zukunft ein Stück näher kommen.

Ihr Berlin-Abenteuer hält die Protagonistin in einem Buch fest, schließlich ist Doris davon überzeugt, „etwas Besonderes“ [3] in sich zu haben, und als ein solcher „ungewöhnlicher Mensch“ [4] möchte sie ihr Leben dokumentieren. Werden alle erzählerischen Merkmale zusammengenommen, ließe sich von einem Tagebuchroman sprechen – doch davon will die Ich-Erzählerin nichts wissen:

„Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr sein. Und ich sehe aus wie Colleen Moore, wenn sie Dauerwellen hätte und die Nase mehr schick ein bisschen nach oben. Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern.“ [5]

Doris sucht kein Medium der Introspektion, sondern eines, mit dem sie ihr Leben und ihre Umgebung in Filmbildern festhalten kann. Die Programmatik „schreiben wie Film“ erfüllt Irmgard Keun durch eine „Entliterarisierung“ [6] des Romans mittels Montage: Visuelle und auditive Stadteindrücke werden unvermittelt durch harte Schnitte aneinander gereiht. Statt eine kausal und chronologisch erzählte, rein fiktionale Handlung zu entwickeln, wird die Realität in Form von Fragmenten aus Liedern oder mittels Versatzstücken wie einem Kinoplakat (DER KONGRESS TANZT, Deutschland 1931, Erik Charell) verbal „sicht- und hörbar“ gemacht.

Diese Entliterarisierung wird zusätzlich durch parataktische Textpassagen unterstützt, in denen Eindrücke der Ich-Erzählerin mittels der Konjunktion „und“ oder durch den häufigen Einsatz von Bindestrichen aneinandergereiht werden. Diese Reihungen setzen weniger auf die Simulation harter Schnitte als Ausdruck von Gleichzeitigkeit, als vielmehr auf eine innerbildliche Montage durch die Nachempfindung einer Kamerafahrt durch Berlin. Doris bewegt sich zu Fuß oder im Taxi durch die Stadt und nimmt ihre Eindrücke sukzessive – als aufeinander folgende Bilder – wahr. Dabei wird ihr Auge zum „Objektiv“, das sowohl umfassende Totalen einfängt als auch an kleinste Details heranzoomt. Hellwach und unermüdlich sammelt sie Eindrücke und geht vollends in ihrer Identifikation mit dem Medium Film auf: „Da war ich ein Film und eine Wochenschau“ [7].

Brüchigkeit der filmischen Imagination …

Mit ihrem „Berlin-Film“ reflektiert Irmgard Keun die Bewusstseinslage ihrer Protagonistin: Doris lässt sich nicht nur formal vom Film inspirieren, auch die gesamte Strukturierung ihrer städtischen Erfahrungen folgen der Vorlage medialer Bilder [8]. Registriert und wiedergegeben wird nur, was zu ihnen passt. Doris – das Kameraauge – ist keine neutrale Dokumentaristin urbaner Wirklichkeit, sondern Aufzeichnung- und Wiedergabeinstanz sowie Hauptdarstellerin ihres ganz persönlichen und spektakulären Berlin-Films.

Doris fällt es im Laufe des Romans jedoch immer schwerer, ihre medial bestimmte Sicht auf die Stadt beizubehalten. Ihre den Spielfilmen und Wochenschauen entlehnten Illusionen einer Glamourmetropole werden bald „an der Realität zerrieben; Stück für Stück entzaubert der Roman die faszinierende Unwirklichkeit der Filmwelt“ [9].

Als Doris mit dem Kriegsblinden Herrn Brenner durch die Berliner Straßen zieht und für ihn ihre euphorischen Berlin-Eindrücke wiedergibt, will die filmische Imagination nicht mehr so recht aufgehen [10]. Der Blinde kann Doris’ Berlin-Imagination nichts abgewinnen. Statt sich vom städtischen Treiben mitreißen zu lassen, sehnt sich Herr Brenner nach den Sternen und der Natur [11]. An seiner Seite unterlässt Doris für einen Moment das ‚Immer-alles-sehen-müssen‘ und schließt zum ersten Mal bewusst die Augen. Verwundert registriert sie den städtischen Lärm: „wie das alles in einen dringt – so viel Lautes„ [12]. Das Licht, das zuvor Berlin erstrahlen ließ, lässt die Menschen auf einmal blass aussehen, offenbart ihre Armut und erlischt schließlich vollends: „Jetzt wird doch alles dunkel – wo ist denn mein helles Berlin?“ [13].

Die traurige Realität einer brutalen, von Arbeitslosigkeit und Armut beherrschten, entmenschlichten Stadt tritt nun auch Doris ins Bewusstsein [14], indem Brenner ausspricht, was nun auch für sie nicht mehr zu übersehen ist: „Die Stadt ist nicht gut, und die Stadt ist nicht froh, und die Stadt ist krank“ [15]. Doris’ Berlin erweist sich als ebenso kunstseiden wie die eigene Identität als Glanz: Kunstseide, ein billiger Ersatz für echte Seide, der aber auf ähnliche Weise schimmerte und glänzte – eine Metapher für den künstlichen Schein.

Auf den ersten Blick könnte Irmgard Keuns Roman als eindimensionale Kritik an einer, von den Medien beeinflussten, Wahrnehmung und Wiedergabe der Welt verstanden werden. Nach diesem Verständnis ist es allein Doris’ durch den Film verfälschter Blick auf die Welt, der ihr eine authentische Identitätsfindung in Berlin verweigert, der bloße Schein, auf dessen Grundlage nur ein haltloses, kunstseidenes und heimatloses Leben möglich ist. Berlin erscheint als „ein schillerndes Symbol eines zerstreuten Daseins“ [16]. Bei näherem Hinsehen muss jedoch festgestellt werden, dass die Protagonistin nach der erfolgten Erschütterung ihrer kinematographisch inspirierten Wirklichkeitswahrnehmung diese keineswegs ablegt. Auch nachdem Doris die dunklen Seiten der Großstadt wahrgenommen und erfahren hat, erweist sich für sie die eigene „filmische Rezeption“ dessen, was sie erlebt, dennoch als opportun, die sie umgebende Realität zu verarbeiten [17] und sie führt ihre Aufzeichnungen auf entstprechende Weise fort. Gleichwohl findet allmählich eine Erweiterung ihres Wahrnehmungsspektrums statt und es geraten nach und nach unspektakulärere Stadtimpressionen in ihren Fokus [18]. In dieser Erweiterung liegt eine Relativierung: Blieb die filmische Erforschung der urbanen Realität Berlins zunächst den schimmernden Oberflächen vorbehalten, werden nunmehr verborgene Details hinter den Kulissen in den Blick genommen, die für die alltägliche Realität der Stadt stehen. Hier setzt Keun einer, hinsichtlich der sogenannten Massenmedien, kulturpessimistischen Haltung die Darstellung eines zwar von diesen beherrschten, in Ansätzen jedoch durchaus produktiven Blicks auf das Phänomen der Großstadt entgegen.

Doris befindet sich jedoch noch auf der kritischen Grenze zwischen einer medial verursachten Blindheit für das reale Treiben der Stadt und einem neuen Wahrnehmungsmodus, der sich der kinematographischen Betrachtung bemächtigt und pars pro toto den Funktionszusammenhang der urbanen Welt aufdeckt. Zu einer produktiven / kreativen filmischen Erforschung der urbanen Realität gehört dabei ganz offensichtlich, dass sich der Betrachter der Bildtäuschungen bewusst ist und mit ihnen spielt. Irmgard Keuns Großstadtbeschreibung zeigt also nicht nur einen pulsierenden und temporeichen Handlungsort; durch die Adaption filmischer Gestaltungsmittel wird dem Leser Berlin nachgerade als geschriebenes „Filmwerk“ vor Augen geführt und eine Sehweise evoziert, die sich durch die Multiplikation von menschlicher und kinematographischer Wahrnehmung auszeichnet und unter der Bedingung ihrer bewussten Reflexion zu einer gesteigerten Durchdringung der städtischen Welt führt [19].

Nachtrag (18. Mai 2013):
Eine längere Fassung dieses Beitrages ist erschienen unter dem Titel: „Da war ich ein Film und eine Wochenschau – Medienkritische Relfexion in Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen“ In: Fischer, Arno/ Oestereich, Marcel/ Scheidat, Tobias (Hrsg.) (2013): 14. Nachwuchswissenschaftlerkonferenz ost- und mitteldeutscher Fachhochschulen (NWK 14). Tagungsband. Glückstadt: vwh. S. 175-180.

Zur Person: Anna Luise Kiss studierte Kulturwissenschaften (B.A.) und machte ihren Master in Medienwissenschaft. Seit November 2012 ist sie als akademische Mitarbeiterin im Studiengang Medienwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ tätig und promoviert zu „Laiendarstellern im Kinospielfilm“

[1] Scherpe, Klaus R. (1991): Vom Moloch zur Schalttafel. Transformationen der Großstadterzählung in der Moderne. In: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hrsg.): Die Stadt als Kultur- und Lebensraum. Vorträge im Wintersemester 1990/91. Heidelberg. Heidelberger Verl.-Anst. S. 83-98. Hier S. 89.

[2] Keun, Irmgard (2004): Das kunstseidene Mädchen. München: List-Taschenbuch-Verl. S. 45.

[3] ebd.: S. 8.

[4] ebd.

[5] ebd.

[6] Becker, Sabina (1993): Urbanitat und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur, 1900-1930. St. Ingbert: Rohrig. Hier S. 226.

[7] Keun 2004: S. 126.

[8] Helduser, Urte (2005): Sachlich, seicht, sentimental. Gefühlsdiskurs und Populärkultur in Irmgard Keuns Romanen Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen. In: Arend, Stefanie / Martin, Ariane (Hrsg.): Irmgard Keun 1905 / 2005. Deutungen und Dokumente. Bielefeld: Aisthesis-Verl. S. 13-27. Hier vgl. S. 24.

[9] Rosenstein, Doris (1995): „Mit der Wirklichkeit auf du und du“? Zu Irmgard Keuns Romanen 'Gilgi, eine von uns' und 'Das kunstseidene Mädchen'. In: Becker, Sabina / Weis, Christoph (Hrsg.): Neue Sachlichkeit im Roman neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart u.a.: Metzler. S. 273-290. Hier S. 285.

[10] vgl. Keun 2004: S. 113 ff.

[11] vgl. ebd.: S. 114.

[12] ebd.: S. 115.

[13] ebd.: S. 116.

[14] Shafi, Monika (1988): „Aber das ist es ja eben, ich habe ja keine Meinesgleichen.“ Identitätsprozess und Zeitgeschichte in dem Roman „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun. In: Stapf, Paul (Hrsg.): Colloquia germanica., Vol. 21. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- u. Literaturwissenschaft. Tübingen; Basel: Francke. S. 314-325. Hier vgl. S. 323.

[15] Keun 2004: S. 118.

[16] Fleig, Anne (2006): „Ein Ostern, was auf Weihnachten fällt“ oder Die „utopischen“ Glücksversprechen der Netzestadt; Brecht, Keun, Kracauer. In: Koch, Gerd (Hrsg.) „Können uns und euch und niemand helfen“: Sie Mahagonnysierung der Welt; Bertolt Brechts und Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Wissen & Praxis; 138. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel. S. 60-70. Hier S. 67.

[17] vgl. Keun 2004: S. 126 f., 194, 198 f.

[18] vgl. ebd.: S. 176, 198, 199.

[19] Vogt, Guntram (2001): Die Stadt im Kino. Schüren. Hier vgl. S. 34.