Nothing is Sacred

Sex und Gewalt als Befreiungsakt von kleinbürgerlicher Enge

„You killed me first!“ ruft das Mädchen, bevor sie den Auslöser drückt und ihre gesamte Familie abknallt. ‚You’, das ist die kleinbürgerliche amerikanische Gesellschaft der 80er Jahre, die sich am Konsum berauscht und sich entfernt von den sozialen Realitäten. ‚Gekillt’ wurde das Anders-Sein, das Echte, nicht der Norm-Angepasste.

„You killed me first“ ist auch der Name der Ausstellung, die vom 19. Febrauar bis 19. April 2012 im KW Institute of Contemporary Art Berlin zu sehen war, und sich einer Underground-Filmbewegung widmet, dem Cinema of Transgression.

Mitte der 1980er Jahre formierte sich eine Gruppe von Filmemachern [1], um der amerikanischen Gesellschaft den kulturrevolutionären Kampf anzusagen. In einer Zeit also, in der Ronald Reagan sich auf konservative Werte und die Familie als gesellschaftlichen Urkern konzentrierte und in der nicht zufällig auch “American Psycho” von Bret Easton Ellis angesiedelt ist. „Cinema of Transgression“ wandte sich gegen die gesellschaftlichen Regeln und Normen und den als sinnentleert und handzahm empfundenen Unterhaltungs- und Kunstbetrieb, aber auch gegen die Avantgarde und den Strukturalismus, die als Quelle der Faulheit ausgemacht wurde. Das Mittel zum Ausdruck: Filme, die schockierten und das Gefühl von Disparität zwischen der eigene Lebensrealität und der ‚Gesellschaft’ visualisierten.

„We propose that any film which doesn´t shock, isn´t worth looking at. (…) We propose to go beyond all limits set or prescribed by taste, moralitay or any other traditional value system shackling the minds of men. (…) There will be blood, shame, pain, and ecstasy, the likes of which noone has yet imagined.“ [2]

Die Idee, sich von relativierenden Diskursen über den Schock oder das Trauma zu befreien, ist nicht neu, aber durchaus wirkungsvoll. Schon Roland Barthes beschreibt das Trauma als eine die Sprache suspendierende Kraft, weil man dem Schrecklichen, das einem von Fotografien mit gewalttätigen Inhalt entgegenblickt,  erstmal einfach ausgesetzt ist. Man kann das Erlebte höchstens nachträglich beschreiben, und damit auch in den sprachlichen Diskurs überführen.

Soweit die Idee. Nach einigen Filmen wird aber klar: Explizite Szenen Fehlanzeige. Denn Gewalt- und Sexualitätsdarstellungen kommen in den meisten Filmen erstaunlich künstlich daher, Penisattrappen, selbstgebastelte Special‑Effekts und fehlendes schauspielerisches Können rücken das ‚Gemachte’ teilweise sehr stark in den Vordergrund, so dass sich das Trauma kaum einzustellen vermag.  Auch sind die Filme formal und inhaltlich sehr unterschiedlich und umfassen Kurzfilme mit aneinander geschnittenen Szenen, mit unappetitlichem oder gotteslästerlichem Inhalt; roadmovieartige mit Vergewaltigungsplot; fantastische Auswüchse mit lüsternen Faunen, die unschuldige, tanzende Elfen anfallen, sowie dokumentarisches Material welches z.B. das Zunähen einer Vagina zeigt.

Am interessantesten was das Formale betrifft, ist die Reihe THE MANHATTAN LOVE SUICIDES von Richard Kern, die vor allem das ‚Andere’ als gesellschaftlich bedrohlich und missverstanden thematisiert. In STRAY DOGS ist es eine Art Zombie, der durch die Straßen irrt, einem Pärchen folgt, Liebe einfordert, aber abgewiesen wird und sich schließlich in seine Einzelteile auflöst. Natürlich nicht ohne dabei viel Blut zu vergießen, das  in Fontänen aus den Stümpfen spritzt.

Film Still aus The Manhattan Love Suicides: Stray Dogs, Richard Kern, Courtesy Richard Kern

Film Still aus The Manhattan Love Suicides: Thrust In Me, Richard Kern/Nick Zedd, Courtesy Richard Kern/Nick Zedd

Der eigentliche Star der Schau ist die Ausstellungskonzeption, die zusammen mit den Filmen zu einem Gesamtkunstwerk verschmilzt: Das KW dass in den Gebäuden einer ehemaligen Margarinefabrik residiert, zog alle Register um die Intention der Filme zu unterstreichen. Schon im Kassenbereich wird man mit grell-grünem Licht und einer verstörenden Soundkulisse konfrontiert, um danach direkt in den stockdunklen Keller  zu stolpern, wo die ersten Filme zu sehen sind. Hier hängen drei Leinwände frei schwebend im Raum, die tatsächlich mit einer Art Leintuch überzogen sind und Falten werfen. Die Titel der Filme sind direkt auf die Wand gemalt und glühen von phosphoreszierender Farbe. Es gibt keine Sitzmöglichkeit, außer dem blanken Betonboden.

Die filmische Reise führt weiter in ein Nebengebäude, über ein Treppenhaus mit zugesprühten Fenstern und hektischem stroboskopischen Licht, mit Sturzgefahr inklusive. Im 1. Und 3. Stock sind die Ausstellungsräume knallrot bzw. giftgrün gestrichen,  mit aufgemalten Projektionsflächen, leicht ausgefranst an den Seiten, eigentlich ohne jegliche Tiefe, wirken sie aber durch Schwarzlicht-Bestrahlung dreidimensional, so als liefe die Projektion hinter der Wand.

Im 2. Stock überziehen Farbrinnsale und – Kleckser die Wände, die durchaus eine Tatort-Assoziation zulassen, aber wenigstens kann man sich hier auf flachen Sitzkissen niederlassen. Alles ist gerade so dunkel dass man sich nicht gegenseitig über den Haufen rennt. Die Filme laufen hier gleichzeitig und machen eine ungestörte Rezeption unmöglich. Wenn man wirklich mal inhaltlich was verstehen soll, gibt es Kopfhörer, und einige sicht- aber nicht tondicht abtrennende Vorhänge, ansonsten herrscht ein Nebeneinander von visuellen Reizen und einer Kakophonie aus diversen Tonspuren.

Die Ausstellungskonzeption unterstreicht das Trashig -Unheimliche und Spielerisch-Experimentelle der Filme, outet sie aber gleichzeitig auch als das, was sie sind: Zeugen einer Zeit, eine Momentaufnahme des Gemütszustandes einer bestimmten Generation eines bestimmten Alters, an einem bestimmten Ort. Darauf verweist auch auch Richard Kern – der heute älter, weiser, drogenfrei und berufstätig ist (u.a. als Photograph für  den „Hustler“) – mit seiner lakonischen Selbsteinschätzung: „All the movies in that series were about people who just get so hung up on it all that they kill themselves. When you are older, it seems like the stupidest thing to be suffering so much: to feel that you have to die for love.“ (Quelle: thequietus.com)

„Cinema of Transgression“ visualisiert letztlich starke Gefühle, die wir alle kennen, die uns gerne auch mal überwältigen, und die wir alle irgendwie kanalisieren müssen. Das Ventil, das Cinema of Transgression gewählt hat, ist der künstlerischen Ausdruck. Und das ist, bei aller Destruktivität, immer noch der produktivste Weg des Druck-Abbauens.

[1] Namentlich: Karen Finley, Tessa Hughes-Freeland, Richard Kern, Lung Leg, Lydia Lunch, Kembra Pfahler, Casandra Stark, Tommy Turner, David Wojnarowicz, Nick Zedd

[2] Auszug aus dem Manifest des Cinema of Transgression, Quelle: Booklet zur Ausstellung