Angesichts der für die Presse höchst angespannten Lage in der Türkei, in der seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 unzählige Radio- und Fernsehsender, Zeitungen und Online-Medien geschlossen wurden und zahlreiche Journalisten ihren Job verloren haben oder im Gefängnis sitzen, präsentiert die türkische Filmemacherin Ceylan Özgün Özcelik mit KAYGI einen düsteren Thriller, der von größerer Aktualität nicht sein könnte.
Der Film war auf der diesjährigen Berlinale der einzige Festivalbeitrag aus der Türkei und der erste Langspielfilm der Regisseurin, die sich in der Türkei vor allem als Filmkritikerin einen Namen gemacht hat.
Hasret arbeitet als Cutterin in der Dokumentarfilmabteilung eines türkischen Nachrichtensenders, dessen vielsagender Leitspruch ist: „Was Sie sehen ist die Wahrheit. Was sie hören ist die Wahrheit.“ Als sich die politische Stimmung im Land ändert, Kollegen ihre Arbeit verlieren, es schließlich verboten wird, sich während der Arbeitszeit in sozialen Netzwerken aufzuhalten, die Nachrichten mehr und mehr manipuliert werden und Hasret plötzlich und ohne Angaben von Gründen Verantwortungen abgezogen werden, beginnt die Welt um sie herum deutliche Risse zu bekommen.
Auch Zuhause findet sie keine Ruhe: Der von der Straße hereindringende Baulärm ist kaum zu überhören, im ganzen Viertel wird gebaut und auch ihr Wohnhaus soll bald abgerissen werden und irgendeinem neuen Bauprojekt weichen.
Der steigende Druck am Arbeitsplatz und ihre Schlaflosigkeit setzen ihr merklich zu, bis Hasret sich schließlich überhaupt nicht mehr motivieren kann, zur Arbeit zu gehen. Ihre besorgten Freunde schickt sie weg, schließt sich ein, beginnt in ihrer Wohnung Menschen zu sehen, die nicht mehr da sind, Lieder zu hören, wo keine gespielt werden und Rauch zu sehen, wo es nicht brennt. Die Begegnung mit einem Hund in einem Park, weckt Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis aus ihrer Kindheit und sie beginnt mehr und mehr daran zu zweifeln, dass ihre Eltern tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.
Bereits 2013 begann Ceylan Özgün Özcelik mit der Arbeit an dem Drehbuch des Films und doch wirkt seine Thematik brandaktuell: In so genannten postfaktischen Zeiten, in denen objektive Tatsachen zu Alternativen unter vielen werden und öffentlich das offensichtlich Falsche behauptet wird, ist gerade die Auseinandersetzung mit den psychischen Folgen des daraus entstehenden Verlusts an Orientierung von großem Interesse.
Was passiert mit Menschen, die sich nicht mehr erinnern können, deren Erinnerungen, nachträglich gefälscht werden, deren persönliches Erleben mit der um sie herum herrschenden und kollektiv akzeptierten Realität nicht mehr deckungsgleich sind? – Dann entsteht so etwas wie eine kognitive Dissonanz, das Äußere steht im Widerspruch zum Inneren. Widersprüchliche Informationen führen zu einer Diskrepanz im Denken und Fühlen, die irgendwie ausgeglichen werden muss.
Wenn zunehmend die Wahrnehmung in Frage gestellt wird, Tatsachen verdreht und Erinnerungen geschönt werden, ist das ein paranoider Zustand.
Diesem Zustand versucht Ceylan Özgün Özcelik in KAYGI auf den Grund zu gehen und inszeniert ihr politisches Drama als spannenden Psychothriller über eine Frau, die den Druck nicht mehr aushält, nicht mehr weiß, was sie glauben soll und darüber langsam verrückt wird.
Klaustrophobische Innenaufnahmen der verwinkelten, komplett verstaubten Altbauwohnung, wechseln sich ab mit tableauartigen, überwältigenden Stadtansichten, die Istanbul als eine Stadt im ständigen Auf-, Ab- und Umbau zeigen. Das Zusammenspiel atmosphärischer Bilder, mit mit einer aufgeladenen, beständig flüsternd-knisternden Soundkulisse, lässt die Beklemmung auch außerhalb der Leinwand deutlich spürbar werden.
Je mehr Hasret sich in ihre Erinnerungen, in alte Fotos und Aufzeichnungen ihrer Eltern vertieft, desto mehr scheinen die Wände ihrer Wohnung zu glühen, sie einzuschließen und zu verbrennen. Extreme Kamerawinkel und beschleunigte Schnitte, kurze Flashbacks und Schatten, die durch die dunklen Zimmer huschen lassen – auf relativ konventionelle Art zwar, aber dennoch effektiv – die Spannung steigen. Und dazwischen immer wieder Nachrichtenbilder mit der Übertragung einer Rede eines namenlosen Politikers: Ein Einkaufszentrum soll gebaut werden, Menschen protestieren, während Hasrets Wohnung sich immer mehr mit Rauch füllt. Diese Bilder wecken Erinnerungen an die mehrere Monate andauernden Proteste gegen die Bebauung des Geiz-Parks im Zentrum Istanbuls im Sommer 2013.
Immer mehr Ungereimtheiten tun sich in Hasrets Vergangenheit auf: Die Menschen, die es wissen könnten, hüllen sich jedoch in Schweigen.
Waren ihre Eltern nicht auf dem Weg zu einem Festival gewesen, als der angebliche Unfall passierte? Was genau hat sich dort zugetragen?
In der Beantwortung dieser Frage liegt jedoch leider die Schwachstelle des Films: Denn das Ereignis, um das es hier eigentlich geht ist ein fundamentalistisch-religiös motivierter Brandanschlag, bei dem 1993 in einem Hotel in der zentralanatolischen Stadt Sivas anlässlich eines alevitischen Festivals über dreißig Personen ums Leben gekommen sind. Dieser Zwischenfall wird von offizieller Seite als „Sivas-Ereignis“ bezeichnet, während die Aleviten von einem Massaker sprechen.
Jährlich wird am 2. Juli den damals Verstorbenen gedacht. Offenbar befinden sich noch zahlreiche der damals Verurteilten auf der Flucht. Das Verständnis dieser Differenz setzt schon sehr viel Vorwissen der neueren türkischen Geschichte voraus.
Mit KAYGI ist der Regisseurin ein bedrückender, psychologischer Genrefilm mit politisch aktueller Tragweite gelungen, der vor allem auch von der großartigen Leistung von Algı Eke als sich immer weiter in ihre depressive Paranoia hinein steigerende Hasret getragen wird und dessen Spannung sich in einem Filmende entlädt, das noch eine Weile nachklingt, wie nach einem Paukenschlag.