Der ethnographische Film ist eine Stadtsymphonie Brüssels und seiner ländlichen Umgebung aus Perspektive der lokalen Tischsitten. Seinen symphonischen Charakter erhält der Film in durchrhythmisierten Einstellungen und der seriellen Montage. In den Gesten der Tischsitten findet der Film einen Spiegel für seine Stilbildung.
Die dramaturgische Rahmung eines Tagesablaufs ist unterteilt in eine Serie sich wiederholender Varianten von alltäglichen oder (wie im Falle des Weihnachts- oder Neujahrsfests) alljährlichen Tischszenen. Musikalisch speist sich der Film aus Jazz, französischem Chanson, Chorälen, einer Blaskapelle und dem allgemeinen Gemurmel von Tischgesprächen. Den Auftakt zum Rhythmus des Essens bildet zunächst Markttrubel vor Sonnenaufgang, gefolgt vom Stillen eines Kindes an der mütterlichen Brust und endet mit der Neujahrsfeier einer Sylvestergemeinschaft. Dazwischen schwenkt der Film durch Disziplinaranstalten (Militär, Schule, Fabrik, Puppenstube), fängt Gesten auf Familienfeiern (Hochzeit, Beerdigung, Kommunion, Weihnachten, Sylvester) und in Restaurants ein und franst in die Gelegenheitsspeisen auf Jahrmärkten aus. Der Film zeigt am Beispiel des Speisens vor allem ein soziales Interesse am Porträt der belgischen Gesellschaft. Dies wird zum einen am Ende in der kontrastierenden Parallelmontage einer Armentafel mit einer champagnerfließenden, bürgerlichen Gesellschaft deutlich, zum anderen im sozialen Querschnitt (Straßenarbeiter, Fabrikarbeiter, der Intellektuelle). Die Tischanordnung und Ausstattung verrät den sozialen Stand (Obdachlose, Arbeiter, bürgerliche Klasse), den institutionellen Rahmen (Arbeit, Militär, Familie, Oper) oder den Anlass (alltägliches Essen, Feier).
Der Film war ursprünglich von Henri Storck, Ziehvater des ethnographischen Films in Belgien, als Auftakt einer dreiteiligen Serie über die „Gesten der Menschheit“ gedacht. Aufgrund mangelnder Finanzierung ist es beim Auftaktfilm „Les Gestes du Repas“ geblieben.
Bemerkenswert an diesem Film ist der satirische Tonfall. Poetische Verfahren wie Übertreibung und Verdichtung geraten dabei keineswegs in Widerspruch mit dem ethnographischen Interesse. Auch die Inszenierung der Mise-en-scène durch Studiobauten und professionelle Schauspieler stellt hier keine Hürde für den ethnographischen Authentizitätsanspruch dar. Der Vorzug des Speisens, so Luc de Heusch in einer Beschreibung seines Films, liege darin, dass selbst unter filmischen Bedingungen, die Gesten des Speisens relativ unverändert blieben – zumal de Heusch explizit um keinerlei Schauspiel bat.
Im Film führt dies nun zu einem stark reduzierten Schauspiel, das an jene Puppen in den Filmen Robert Bressons oder Carl Theodor Dreyers denken lassen. Die Schauspieler werden zu Requisiten, die Requisiten zu Schauspielern. Was hervortritt ist der Dingcharakter der Szenen. In einigen Szenen werden die Menschen schlicht weggeblendet, sodass der gedeckte, vom Speisen gezeichnete Tisch zurückbleibt. Die Mise-en-scène ist en détail choreographiert. Es spielt hier gar keine Rolle, ob dem Authentizitätsanspruch genüge getan wird. Viel entscheidender ist, dass die Darsteller ein Bild von dem abgeben, was sie für authentisch, d.h. ja vor allem glaubwürdig, halten.
Der Tisch ist hierbei die zentrale Dinginstanz, die die Komposition der Mise-en-scène und der Kadrage bestimmt. Der Film entfaltet vom Tisch her seine Szenerie, Zentrum und Peripherie. Wenn also der Tisch die zentrale Dinginstanz des Films bildet, so gruppiert sich um dieses Ding ein Vorher, ein Währenddessen und ein Nachher. Der Tisch ist gedeckt und vorbereitet, er ist besetzt, er ist benutzt. Er ist ein Wandlungsort, ein Transformationsort irreversibler Wiederholung. Ein Tatort der Nahrungsaufnahme und ein Tatort gebrochener Tischsitten (Diese Assoziation legt die Titelsequenz im Morgengrauen nahe, die an den Film Noir erinnert.). Der Tisch erscheint hier auch als ein Ort der Disziplinierung: Nur bestimmte Dinge finden auf ihm Platz, nur auf bestimmte Art wird etwas von ihm heruntergenommen.
Der Tisch: das aristotelische Dingnarrativ von Anfang, Mitte, Ende mit kathartischem Moment. Die Beerdigungsszene zeigt dies exemplarisch: Zunächst gilt dem Anlass der Raum: hier die Trauer. Dem schließt sich das Essen (Kaffee und Kuchen) in Begleitung von Gesprächen an und mündet schließlich in eine gelöste Stimmung (Lachen). Essen wird zur aufmunternden sozialen Veranstaltung. Und wo man vereinzelt erscheint, wie im Restaurant, wird, wenn auch unbeholfen, Kontakt aufgenommen, um sich schließlich in einem spontanen und synchronen Blick auf eine eintretende Festgemeinschaft zu vereinen (was jenen komischen Effekt mit sich bringt). Mitunter fährt die Kamera den langen Tisch ab, auf zwei singende Männer zu und an ihnen vorbei, um schließlich auf einem Blumenstrauß innezuhalten. Die fimische Geste ist immer die Gleiche: Sie zielt auf ein feierlich ausklingendes Ende.
Luc de Heusch spricht hier dem Film keine Transparenz zur sozialen Wirklichkeit zu. Viel mehr setzt er das Medium Film als eine Technik der Wiederholung ein: Damit ist nun nicht allein die serielle Dramaturgie gemeint, sondern die wiederholte Performanz der Gesten. Erst durch sie kommt überhaupt ein Bild „einer Quintessenz“ zustande. Nicht der unbemerkte, interventionslose und observierende Blick der Fliege an der Wand löst den ethnographischen Anspruch auf Authentizität ein, sondern die hochartifizielle Anordnung eines Soziallabors aus Drehbuchautoren, Setdesignern, Schauspielern, Studioscheinwerfern und dem Kamerateam verfertigt ein Bild jener alltäglichen Speisegesten. Der Prozess der Verfertigung ist an eine nicht-humane Instanz delegiert: die Kamera. Sie operiert meist im Reportagemodus (vor allem zu Beginn) und nie observierend.
Durch den satirischen Blick auf sein Sujet, die Mahlzeit, tritt die intervenierende Instanz der Filmproduktion (Kamera, Filmteam, Studiobauten, Montage, etc.) zugleich mit auf die Bühne. Fabel, Form und Film treffen sich im Stil. Die Besonderheit der Tischsitten besteht in ihrem Formsein. Als Kulturtechnik sind sie bereits die Darstellung ihrer selbst. Sie sind Handlung und Pose zugleich. Der Film macht sich diese stilisierte Pose durch die Satire zu eigen. Darin findet sich der Prozess des Filmens als elaborierte Kulturtechnik selbst wieder. In den Gesten der Tischsitten findet der Film einen Spiegel für seine Stilbildung, den Zeigegestus.
Seine Glaubwürdigkeit zieht der Film aus seiner ausgestellten Performanz alltäglicher Kulturtechniken. Damit steht der Film auch in der Tradition Robert Flahertys. Ethnokinematographie ist dort authentisch, wo sie ihre Inszenierung als solche ausstellt und ihren Zeigegestus bewahrt. Das Filmbild tritt hier nicht als repräsentatives Abbild auf, sondern zeigt sich als immer schon kinematographisch konstituiert. Man könnte sogar bis hin auf eine Ontologie des filmischen Bildes ausgreifen: Das Filmbild schiebt sich zwischen den konstitutiven Abstand zwischen dem Sein und seiner Darstellung. Allerdings ist dies weder Interesse von LES GESTES DU REPAS, noch sein Spezifikum. Hier verrät uns LES GESTES DU REPAS nichts über seinen Mechanismus des Verdeckens durch sein Erscheinen. Die Intervention durch das Filmbild erscheint hier als Transparenz auf die Posen, auf den Zeigegestus kultivierter Sitten. Der Film läuft eher auf eine kompromisslose Minimalbedingung jeglicher Gesten des Speisens zu: sie finden in Gemeinschaft als soziales Ereignis statt. In dieser alltäglichen Zusammenkunft gibt es eine sehr klare Kausallogik: Es gibt immer einen konkreten Anlass (Hunger, eine Feier), bei dem sich eine Gemeinschaft zum Essen zusammenfindet. Ganz gleichgültig wie die Zusammenkunft nun konstituiert ist: Sie zeigt sich immer schon unter der Bedingung der Beobachtbarkeit.