Der fiktionale Film scheint sich mehr und mehr einen dokumentarischen Habitus anzueignen, der sich durch eine verwackelte, nicht-statische (Hand-)Kameraführung, den Einsatz von größtenteils natürlichem, nicht inszeniertem Licht und körnigen Bildern sowie durch den allgemeinen Versuch auszeichnet, dem Geschehen auf der Leinwand irgendwie ‚näher‘ zu kommen.
So scheint die Kamera in Bence Fliegaufs Drama JUST THE WIND (CSAK A SZÉL) ihren Protagonisten quasi im Nacken zu sitzen, sie zu verfolgen, bis hin zur Verschmelzung mit deren Körpern. Die Anspannung, die durch diese Nähe entsteht, ist den gesamten Film über spürbar.
In einer Roma-Siedlung, die abseits einer ungarischen Stadt im Wald gelegen ist, sind mehrere Morde begangen worden, bei denen gleich ganze Familien zu Tode gekommen sind. Die Täter sind nicht zu fassen und die Polizei scheint auch nur mäßig daran interessiert, diese zu finden. Niemand weiß, wann die Mörder wieder zuschlagen werden – das Gefühl der Unsicherheit ist allgegenwärtig. Die Kamera scheint dabei mal Komplize, mal Überwachungskamera zu sein. Die Umwelt der Roma wird als feindlich und aggressiv inszeniert, überall lauern Gefahren: auf dem Schulweg der Roma-Kinder durch den Wald, in der Schule durch schmierige Lehrer und Mitschüler, in der Siedlung durch die Drogenabhängkeit in den eigenen Reihen. Solidarität und Hilfbereitschaft gegenüber den Roma sind rar. Ihre Inakzeptanz in der ungarischen Gesellschaft, die Abneigung und das Misstrauen, die ihnen von allen Seiten entgegenkommen, scheinen sich in einer unheimlich belebten Natur wieder zu finden. Der Wald steht eher für Gefahr als für Schutz, die Häuser sind heruntergekommene Bretterbuden, starr vor Schmutz und Armut und stellen alles andere als schützende Heime dar. Die Kamera, die immer wieder nur einzelne Körperteile fokussiert, bedrängt die Figuren geradezu, rückt ihnen auf den Leib und verstärkt auf diese Weise den klaustrophobisch-beklemmenden Eindruck, der dem Film auch noch lange nachdem der Vorhang wieder geschlossen ist nachhängt.
Bence Fliegauf ist es gelungen, ein beunruhigendes Bild der Situation der Roma in Ungarn zu zeichnen, das durch seine Kameraführung und Montage den Zuschauer bis ins Innerste zu berühren vermag.
Auch Brillante Mendozas CAPTIVE über eine Geiselnahme von Touristen durch philippinische islamistische Terroristen zeichnet sich durch einen sehr stark dokumentarischen Stil aus. Die Ereignisse des Films beruhen auf tatsächlich stattgefundenen Ereignissen aus dem Jahre 2001, als islamistische Abu-Sayyaf Separatisten eine Gruppe ausländischer Touristen aus einem Ferienresort der philippinischen Palawan-Inseln entführten und gegen sehr hohes Lösegeld wieder freigaben. Da dieses Vorgehen sich für die Terroristen als ein äußerst lohnendes Geschäft darstellte, hat dieser Vorfall zahlreiche weitere Geiselnahmen nach sich gezogen und gehört heute zu einer gängigen Praxis in Philippinien.
Der Film beginnt mit der brutalen Geiselnahme, die Kamera bleibt dabei immer in Bewegung, ohne Fixpunkt, immer nah am Geschehen und an den Körpern, um die Gewalt zwischen Entführern und Entführten ungefiltert einzufangen. Neun Monate dauerte die Geiselnahme und diesen Zeitraum versucht auch der Film zu umreißen. Diese neun Monate bedeuteten ständiges Verstecken im philippinischen Dschungel, gewaltvolle Auseinandersetzungen zwischen philippinischem Militär mit zahlreichen Opfern auf allen Seiten und eine nicht enden wollende Spirale der Gewalt, welche im Film immer wieder durch hektische Kamerabewegungen spürbar gemacht wird. Das Spiel der Darsteller sei zumeist improvisiert gewesen, da diese häufig darüber im Unklaren gelassen wurden, ob sie gerade gefilmt wurden oder nicht, wie der philippinische Regisseur in einem taz-Interview (taz-Ausgabe am 17.2.2012) verriet. Leider ist der Film trotz seiner interessanten Kameraeinstellungen und trotz der begabten – im Film jedoch etwas blassen und steifen – Isabelle Huppert ein wenig zu lang geraten. Die einzelnen Charaktere der Figuren bleiben oberflächlich, Zwischenmenschliches wird angedeutet, erhält jedoch keine psychologische Tiefe. Besonders beeindruckend sind neben den nervösen Gewaltausbrüchen vor allem die Naturaufnahmen eines wunderschön wilden, philippinischen Dschungels.
Vielleicht war es aber auch Mendozas Absicht, vor allem den oberflächlich, soziologischen Aspekt der Geisel-/Geiselnehmerstruktur zu zeigen und den Zuschauer die Länge der Zeit, die Entführer und Entführte zusammen verbrachten, auch körperlich spürbar zu machen – was durch die beengte Infrastruktur des Friedrichstadtpalastes eine eher unangenehme Nebenwirkung war…
In OUR HOMELAND (KAZOKU NO KUNI) thematisiert die Dokumentarfilmerin Yang Yonghi, die bereits mehrmals im Forum der Berlinale vertreten war – 2010 mit SONA, THE OTHER MYSELF und 2006 mit DEAR PYONGYANG – die Geschichte ihres Lebens.
In dem Film geht es um koreanische Einwanderer in Japan, deren Sohn Sonho, welcher mit 16 Jahren nach Nordkorea geschickt worden war, nach 20 Jahren zu seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester Rie, die in Japan verblieben sind, zurück kehrt, um einen Gehirntumor behandeln zu lassen. Die Geschichte basiert auf den persönlichen Erlebnissen der Regisseurin, deren drei Brüder von ihren Eltern aus ideologischen Gründen als Kinder nach Nordkorea geschickt worden waren und denen in unregelmäßigen Abständen erlaubt worden war, ihre Familie in Japan zu besuchen. In den 1950er bis 70er Jahren waren viele in Japan lebende Koreaner, deren Alltag in Japan von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung bestimmt war, nach Nordkorea emigriert, da das Land damals einen hoffnungsvollen Neuanfang in Wohlstand und Gerechtigkeit versprach.
Yang Yonghi, die sich dem Thema bereits in ihren zwei Dokumentarfilmen gewidmet hatte, wagt nun eine fiktionalisierte Adaption der Geschichte. Und dennoch ist der Film durch einen sehr dokumentarisch-nüchternen Stil geprägt, die Farben sind zurückgenommen, die Kamera ruhelos, das Spiel der Darsteller zum Teil improvisiert. Der Film zeichnet sich durch eine Stille aus, bei der man sich fragt, wann diese sich in einem Sturm entlädt: Wann kommen die Vorwürfe, die Anschuldigungen? Doch die gibt es nicht – in der einzigen Situation, bei der wir an einem wahren Gefühlsausbruch teilhaben, werden die großen Dinge nicht ausdiskutiert, die Wand zwischen dem Vater und dem Sohn, ja zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Sohnes scheint ebenso dick, wie die (ideologischen) Mauern zwischen Nord- und Südkorea.