Es war eine Ironie des Schicksals, dass der Winter vor und nach dem Ereignis des Jahres für alle Berliner Filmliebhaber vergleichbar mild ausgefallen ist, aber während der 10 Tage im Februar, an denen zum 62. Mal die Berlinale stattfand, der Winter noch einmal alles gegeben hat, was er an Minusgraden, Glatteis und Schnee zu bieten hat. Vielleicht war das nur ein Entgegenkommen, das den Filmjunkies, den warmen Kinosaal nur um so mehr ersehnen lassen sollte oder aber auch ein Statement, denn wer braucht schon Filme unter Palmen?!
Auch in diesem Jahr äußerte sich mal wieder des Deutschen Leidenschaft für geordnetes In-der-Schlange-stehen und für unermüdliches Zurechtweisen derjenigen, die diese Gepflogenheit nicht kennen oder bewusst ignorieren. Bei besagter Tätigkeit äußerten sich auch die zum Teil sehr massenuntauglichen Saalpolitiken der einzelnen Filmstätten: So stand man sich manchmal trotz Ticket eine geschlagene Stunde die Beine in den Bauch, um sich dann, ganz nach dem Trichter-System oder auch einfach ganz ohne System, mit Akkreditierung und Ticket im Anschlag, über zum Teil vereiste Treppen und in der Hoffnung, man möge nur ja nicht ausrutschen (wobei das bei den Menschenmassen eigentlich auch kein Problem gewesen sein dürfte, man wäre ja weich gelandet…), in das Kinoinnere zu schieben beziehungsweise schieben zu lassen…
Drinnen erwartete den Zuschauer dann meist mehr oder weniger Bewegungsfreiheit nach vorne, links oder rechts, wobei die Toleranzgrenze für Kurzentschlossene, die kurz vor Vorführungsbeginn aus der Mitte der Reihe noch einmal schnell raus mussten, mit fortschreitendem Festival immer niedriger wurde und auch exponentiell sank, je mehr Menschen versucht hatten, es sich gerade zwischen den Mänteln, Ellenbogen und Festivaltaschen der Nebenmänner und -frauen ein wenig bequem zu machen und die in diesem Zuge zum aufstehen gezwungen wurden.
Akuter Schlafmangel, Koffein in gesundheitlich sicher nicht mehr ganz unbedenklichen Dosen und schlechte Ernährung, sowie akuter Licht- und Bewegungsentzug erledigten ihr Übriges und machten aus jedem zunächst friedfertigen Filmliebhaber einen potenziellen Meuchelmörder.
Das Programm der diesjährigen Berlinale war auch in diesem Jahr sehr variiert, unter anderem lag ein Schwerpunkt jedoch auf den cineastischen Adaptionen des sogenannten arabischen Frühlings und eines kinematographisch beinahe komplett ignorierten Kontinents: Afrika. Gleich drei Filme im Wettbewerb beschäftigten sich mit dem ‚schwarzen Kontinent‘ und hatten auch gute Chancen auf einen der hart umkämpften Bären.
Kim Ngyens WAR WITCH (REBELLE) zeigt das aufwühlende Porträt einer Kindersoldatin im afrikanischen Kongo.
Als Komonas Dorf von bewaffneten Rebellen heimgesucht wird, wird das Mädchen zusammen mit zahlreichen anderen Kindern verschleppt und auf brutale Weise zur Buschsoldatin ausgebildet. Da das Mädchen sich durch die besondere Gabe auszeichnet, die Geister der Militärs im Wald zu erspüren wird sie zur Hexe des Rebellenführers gemacht. Als sie sich in den mysteriösen Jungen verliebt, den die anderen ‚Magier‘ nennen, beschließen die beiden, zu fliehen. Trotz all der alptraumhaften Ereignisse und den beinahe schon dokumentarischen Bildern des grausamen Buschkrieges ist dem Regisseur hier ein einfühlsames und auch ein wenig hoffnungsvolles Bild einer jungen afrikanischen Frau gelungen, die durch die Umstände gezwungen ist, viel zu früh erwachsen zu werden und trotz all der Widrigkeiten beschlossen hat, ihren eigenen Weg zu gehen.
Für ihre schauspielerische Leistung als Komona erhielt Rachel Mwanza verdientermaßen den Silbernen Bären.
In seinem Film AUJOURD’HUI (TEY), zeigt der franco-senegalesische Regisseur Alain Gomis den letzten Tag eines Mannes, der morgens aufsteht und weiß, dass er am nächsten Tag gestorben sein wird. Bemerkenswert ist die geradezu ‚körperliche‘ Kameraführung, die den Protagonisten von seinem Augenaufschlag am Morgen seines letzten Tages in seinem Geburtshaus bis zum Schließen seiner Lider neben seiner Frau begleitet, ja, eins zu werden scheint mit dem Körper seiner Filmfigur. Quasi en passant zeigt Gomis auch noch diverse senegalesische Sozialsituationen, wie beispielsweise Bandenhierarchien und -kriminalität, Demonstrationen und Straßenkämpfe, sowie die Schere zwischen Arm und Reich. Dem Regisseur gelingt hier ein schöner Film über die Sinnlosigkeit des Carpe-Diems-Credo, das offensichtlich keinen Nutzen zu haben scheint, wenn es wirklich darauf ankommt. Der letzte Tag im Leben eines Menschen ist hier zwar voller Abschiedsrituale, so trifft Satché auf seinem letzten Weg durch die Straßen seiner Stadt, noch einmal all seine Verwandten, Freunde und Bekannten und doch zeichnet sich dieser Tag vor allem auch durch eine gewisse Normalität aus, wenn er nach seiner Tour endlich wieder zuhause bei seiner Frau und seinen Kindern ankommt, mit ihnen ein wenig spielt, sich mit seiner Frau ein wenig streitet, auf dem Balkon sitzt und sich nachts schließlich zu Bett legt, um nicht mehr aufzuwachen.
Zusammen mit TABU, dem Film des portugiesischen Regisseurs Miguel Gomes, der in schwarz-weiß Kolorit an die koloniale Vergangenheit des Kontinents erinnert – und der übrigens produziert ist von Maren Ade, welche bei der Berlinale 2008 den Jury-Preis für ihr Beziehungsdrama ALLE ANDEREN erhielt – zeigen diese drei Filme ein facettenreiches Bild eines jungen und kontroversen Kontinents.