Michael Hanekes DAS WEISSE BAND ist weit mehr als eine deutsche Kindergeschichte: Der Film ist auch Psychogramm einer Gesellschaft, der die Schrecknisse eines von Faschismus und Kriegen zerrütteten Jahrhunderts vorzeichnet.
Es werden die Ereignisse um 1913/14 im fiktiven norddeutschen Eichwald beschrieben, in einer Zeit in der die Welt sich in der Ruhe vor dem unmittelbaren Sturm zweier Weltkriege befindet.
In diesem Jahr wird das Dorf durch eine Reihe mysteriöser Unfälle heimgesucht. Angefangen mit dem ungeklärten Reitunfall des Dorfarztes und dem Tod einer Bäuerin im Sägewerk, häufen sich nach und nach die Zwischenfälle und nehmen immer mehr den Anschein ritueller Bestrafungen an. Diese Geschehnisse wecken das Interesse und den Argwohn des jungen Dorflehrers und dieser beschließt, den ungewöhnlichen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. Immer wieder kreuzt er dabei den Weg der Kinder des Dorfes, welche etwas über diese merkwürdigen Ereignisse zu wissen scheinen.
Die Welt des kleinen, protestantischen Dorfes ist einfach: Jeder in der Dorfgemeinschaft hat seine ihm fest zugestandene Rolle, Namen sind daher unnötig, die Charaktere ergeben sich aus ihren Berufen. Es gibt den Dorflehrer (Christian Friedel), den Baron (Ulrich Tukur) und die Baronin (Ursina Lardi), den Gutsverwalter (Josef Bierbichler), den Arzt (Rainer Bock), seine ihm verfallene und von ihm verabscheute Haushälterin (Susanne Lothar) und den Bauern (Branko Samarowski). Den geistlichen Vorstand des Dorfes hat der gefühlskalte und moralverbissene Pastor (Burkhardt Klaußner). Er ist es auch, der seine Kinder zur Strafe für ihren Ungehorsam dazu verurteilt, ein weißes Band zu tragen, zur Erinnerung an die Unschuld und Reinheit, die ihnen fehle und um sie wieder auf den Pfad der Tugend zu lenken.
Schnell wird klar, dass der Verursacher der geheimnisvollen Unfälle ein Mitglied der Dorfgemeinschaft sein muss, denn zu offensichtlich sind der Neid und die Missgunst unter den Einwohnern. Von den Kindern des Dorfes, die immer nur in der Gruppe aufzutreten scheinen, und vor allem von deren Anführerin Klara (Maria-Viktoria Dragus), der klugen Tochter des Pators, geht eine ernste, unheimliche Stimmung aus. Die Kindheit in Eichwald ist ein geheimnisvoller und auch gefährlicher Zustand, wo im Spiel das angewandt und kopiert wird, was die Erwachsenen vormachen durch ihre Verhaltensweisen, Worte und Handlungen. So sind die Kinder dieser Geschichte vor allem die verstummten Zeugen einer düsteren Erwachsenenwelt, die ihnen mit Einschüchterung, psychischer und physischer Gewalt entgegentritt.
Der dörfliche Mikrokosmos, in dem sich die Kinder bewegen, ist bei Tag eine beinahe zu idyllische und ruhige, unterschwellig jedoch brodelnde Welt, deren Gefahren sich vor allem in der Dunkelheit und Stille der Nacht in den eigenen vier Wänden offenbaren – „homo homini lupus“, der Mensch ist des Menschen Wolf.
Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die gestochen scharfe schwarz-weiß-Zeichnung des Films, die die aus der Schwärze der nächtlichen Häuser hervorgehende Beklemmung fast körperlich erfahrbar macht. Dieses klaustrophobische Gefühl eines unterdrückten, sich langsam bahnbrechenden Gewaltpotenzials entsteht auch in der ruhigen, sehr langsamen Erzählweise, welche, typisch für Haneke, von der Kraft des Unausgesprochenen hervorgerufen wird. Beispielhaft steht dafür die Züchtigungs-Szene, in der der Sohn des Pfarrers für sein Vergehen bestraft wird. Vor verschlossener Tür, nur anhand der gedämpften Geräusche wahrnehmbar, erahnen wir, was dahinter geschieht und es wird klar, dass die Dinge, die hinter dieser verschlossenen Tür geschehen, das Kraft haben, die Schrecknisse der Zukunft zu erzeugen. Nur ein einziges Mal bricht die rohe und unverdeckte kindliche Brutalität hervor als der Zuschauer, eher durch Zufall, so scheint es, Zeuge wird, wie Klara, deutlich entfesselt, mit offenen, noch feuchten Haaren und lediglich mit einem Nachthemd bekleidet, aus Rache an ihrem Vater dessen geliebten Kanarienvogel auf grausame Weise hinrichtet.
Die unbehagliche Stille, die dem Film diese erdrückende Atmosphäre verleiht, wird verstärkt durch den Verzicht auf jegliche extra-diegetische Filmmusik, lediglich die Geräusche des Alltags zerreissen die unheimliche Ruhe, die über dem Dorf schwebt: der Suppenlöffel, der beim Eintauchen auf den Grund des Tellers stößt, Geschirr, das gewaltvoll zu Bruch geht, das Knarren der Dielen in den schlafenden Häusern oder das stille Weinen eines Mädchens in ihrem Zimmer.
Haneke, der auch das Buch zum Film geschrieben hat, verlegt die Geschichte vom Vorabend der Kriege in den vermeintlich beschaulichen Alltag des fiktiven Dorfes Eichwald und nicht zufällig erinnert dieser Name an das Konzentrationslager Buchenwald. Mit dieser deutschen Kindergeschichte liefert der österreichische Regisseur eine ungewohnte und detailreiche Studie über die Ungeheuer, die Unfreiheit, Demütigung und Erniedrigung, in einem Menschen hervorrufen können und lädt den Zuschauer zu einem Gedankenspiel ein. Nicht umsonst endet der Film mit der Benachrichtigung über das eine neue Epoche der Gewalt einleitende Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo.
„Weiß ist, wie ihr alle wisst, die Farbe der Unschuld.“, sagt der Pastor zu seinen Kindern. Die Schuldfrage aber, wird nicht aufgelöst – das weiße Band wird zum Symbol einer Schuld, die alle zu tragen haben.