Im KW Institute for Contemporary Art hat die Ausstellung living archive eröffnet. Es ist die Jubiläumsveranstaltung zum 50. Jahrestag des Arsenals – Institut für Film und Videokunst, das von 1963-2008 noch Verein Freunde der Deutschen Kinemathek hieß. Die Lagerbestände werden in einem fragmentarischen und idiosynkratischen Querschnitt zur Sichtung gebracht.
Mal geht es hierbei eher um eine künstlerisch, kuratorische Sichtungspraxis, mal in einer systematischen Recherchearbeit um die gezielte Suche nach historischen Sujets, mal geht es eher um eine testende Neuanordnung und Verbindung von bisher unverbundenem Archivmaterial. So stehen präferenzlos künstlerische, kuratorische, wissenschaftliche und filmkritische Recherchen nebeneinander. Das Archiv birgt eine Art Virus, der erst in der Verbindung verschiedener Filmrollen ausbricht und wirksam wird.
Brach daliegende Filmrollen in Archivräumen werden in den Sichtungstisch eingespannt, ins Digitale überführt und kommentiert. Die Arbeit MÖGLICHKEITSRÄUME (Angela Melitopoulos, 2012) handelt nicht mehr von einer Systematik historischer Topologisierung, sondern um Verschaltungen unterschiedlicher historischer Ebenen durch die Gleichzeitigkeit zweier Projektionen. Wenn wir im Zeitalter des Zeugen angekommen sein sollten, dann verwirklicht sich hier eine historische Zeugenschaft, die sich vom Paradigma der Sprache, Linearität und Stimmigkeit verabschiedet hat.
Wie stehen strukturalistisch montierte Weltausschnitte von alphabetisch sortierten Schriftzügen des vermutlich amerikanischen Straßenbildes der 1970er Jahre in Zusammenhang mit Familienszenen eines Amateurfilmes? Welches historische Wissen bringt diese Korrelation zu Tage? Die strukturierte Öffentlichkeit und die Illusion familiärer Harmonie? Geht es um die Trennbarkeit von Öffentlichem und Privatem? Geht es um die Straße und ihre Semantisierung, ihre Übercodierung als umkämpftes, ästhetisch überformtes Gebiet, während die Familienszenen sich aus ihrer eigenen Dramaturgie schöpfen und eine solcherart anvertraute Formung eine elaborierte Ästhetik gar nicht erst einfordert? Die Straße, so scheint es, muss ästhetisch überformt werden. Das Familiäre scheint lediglich zu sagen: Kamera draufhalten und es wird sich schon einfangen lassen, was sich als Familiäres der Kamera zu sehen gibt. Die Familie als entpolitisierte Sphäre?
Natürlich lässt sich das hier nicht letztgültig entscheiden – zumal gerade die Erinnerungen an solche Momente ähnlich fragil sind, wie die zufällige Anordnung selbst. Vielleicht hat hier die filmkritische Praxis ihr stärkstes Argument für eine Poetik des filmischen Moments? Wer sich jedoch zur Autorität mit Deutungshoheit aufschwingt, macht sich zum Spielball der performativen Praktik. Was immer in Korrelation gesetzt wird, sieht sich einem gewissen Zufall ausgesetzt, den die Performerin Angela Melitopoulos hier konstitutiv mit einschreibt, wenn sie live Filmrollen in den Sichtungstisch (der sich hinter den Screens befindet) einspannt und digital projiziert. Weder das Timing, noch die Filmrolle selbst sind in einem festen Maß angeordnet. Es geht hier eher um Rhythmus, um die Möglichkeit in eine Intensität zu steigen, deren historische Dimension lediglich in der Gegenwart erfahrbar wird, „gleichzeitig uns nahe, aber von der Aktualität abgehoben, ist es der Saum der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, über sie hinausläuft und auf sie in ihrer Andersartigkeit hinweist; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt.“[1]
Während des Filmrollenwechsels enstand ein Moment, der mir besonders in Erinnerung blieb. Während auf dem linken Screen Filmaufnahmen einer Performance zu sehen war, die im Frühjahr 2012 im Kino 1 des Arsenals stattgefunden hat, wurde auf dem rechten Screen gerade der (Archiv-)Film unterbrochen. So sieht man Stefanie Schulte Strathaus zusammen mit Erika und Ulrich Gregor, sowie Anselm Franke in den Archivräumen des Arsenals sitzen. Während die Runde gerade über die Gründung des Archivs sprechen, war im Hintergrund der beiden Screens zu sehen, wie Angela Melitopoulos am Sichtungstisch die Filmrollen wechselte. Auf dem rechten Screen erschien der Filmwechsel in seiner digitalisierten Form: ein Cursor erscheint, dann das Menü eines digitalen Players (Quicktime?). Der Film wird gestoppt. Das „Fenster“ verkleinert sich und wird schließlich ganz von der „Arbeitsfläche“ nach links hin weggezogen. So ergibt sich in der kurzen Zeitspanne, in der kein Film „eingespannt“ ist, ein Systembild: der Standardhintergrund des MAC OS X Betriebssystem (Spacelichter). Mir kam der Gedanke, dass „hinter“ den Verbindungen, den neuen Relationen und der Frage danach, wie das Neue hergestellt werden kann, immer das Normierte und Statische lauert, das sich in seiner digitalisierten Form zeigt.
Nimmt man diese performative Zufälligkeit mit hinein in die Anordnung, so gehört zum Möglichkeitsraum auch die Frage nach seiner Normierung. Mit diesem Aspekt scheint eine doppelte Spezifik des Mediums auf: es ermöglicht im gleichen Maße, wie limitiert. Dass dies im Moment eines Filmrollenwechsels sichtbar wird, macht umso deutlicher, dass das Medium materiell gebunden bleibt. In gleicher Weise wie das digitale Quicktime-Fenster geöffnet und geschlossen wird, muss auch die Filmrolle am Sichtungstisch gewechselt werden. Trotz aller bequemen raum-zeitlichen Verkürzungen durch das Digitale (und was ist da schlagender als das Archiv, das zu begehen nicht nur Raum, sondern auch Zeit in Anspruch nimmt?) bleibt das Digitale an raum-zeitlich Vorgänge gebunden. Da kaum anzunehmen ist, dass sich diese Anordnung so ein weiteres Mal wiederholen wird, ist das Moment der Wiederholbarkeit und der Transportabilität, ihrer Distributierbarkeit hier das entscheidende Maß, mit dem jener Möglichkeitsraum sich vor allem in der Gegenwart behauptet. Er ist möglich und zugleich limitiert: er ist flüchtig. Es ist ein sozialer Raum, dessen Funktion in der Unkalkulierbarkeit einer unmittelbaren Erfahrung besteht. Darauf spekuliert die künstlerische Praktik und lässt ihr Produkt im Momentanen, in einer singulären Verwirklichung. Die Anordnung öffnet eine Intensität, die sich im Flüchtigen entwirkt. Wir werden zu Zeugen einer Historizität, die nur für einen kurzen Moment für die Anwesenden stattgefunden hat.
Gewissermaßen fordert dieses historische Verfahren geradezu eine Zeugenschaft ein: sei es im Körper des Betrachters, sei es in Form eines Textes, wie diesem hier. Es ist ja nicht so, dass das Historische zu fragmentarisch-poetischen Momenten stilisiert wird, nein, die Historie selbst besteht zuallerst aus diesen fragmentarisch-poetischen Momenten. Es gilt nur, diese wahrnehmbar zu machen und zwar nicht durch die Sichtung einzelner Fragmentstreifen, sondern durch deren Korrelation mit anderen Filmrollen, anderen Bildern. Die Verbindungen, die das Archiv in sich schlägt, bilden den Möglichkeitsraum, der hier den gesamten Einsatz der Anordnung bedeutet (der Begriff der Installation ist mir zu statisch, eher schon der Begriff der In-stella-tion im Sinne einer Anordnung von Koordinaten, die Intensitätsmomente bilden, und die nicht die Apparaturen sind, sondern die imaginären Bilder, die sich „zwischen“ den Filmrollen ereignen). Oder in den Begriffen Michel Foucaults: das System ihrer Aussagbarkeit ist von Anfang an in dem Körper des Archivmaterials als Ereignis angelegt. Der kreative Moment liegt somit nicht mehr im Künstler, im Performer und auch nicht im Zuschauer, in den Subjekten, sondern im Verhältnis zwischen den Bildern und dem Zuschauer. Gleichwohl die anderen Elemente ebenfalls zur Anordnung der Instellation gehören, ist die stärkste Bindung die zwischen Zuschauer und den beiden Screens (mit Blick auf den dahinterliegenden Sichtungstisch, dem quasi dritten Screen/Bild). Der Zuschauer sieht sich einem geordneten Chaos ausgesetzt das er selbst mit seiner Imagination bespielen kann.
Nur einen kurzen Moment später spricht Anselm Franke von der Rolle des Kurators als einem Verantwortlichen, einem Verwalter, dessen Funktion darin besteht historisches Bewusstsein sichtbar zu machen. Und so scheint für einen kurzen Augenblick der Möglichkeitsraum des Archivs vor dem Hintergrund der digitalen Technik als ein Versprechen, eine Art Utopie des Archivs: die Auflösung linearer Historie in Epochen und Zeitaltern muss dort an ihr Ende gelangen, wo alles quasi instantan verfügbar wird, man – in der Idee des Hyperlinks – von Athen nach Shanghai springen kann, ebenso wie von Oberhausen ins Silicon Valley. Die metonymische Verwendung der Orte vollzieht hier einen raumzeitlichen und ideologischen Brückenschlag, der das Soziale als Imaginäres hervorspringen lässt, das im Historischen immer schon vorhanden gewesen war.
Das Archiv ist kein Hort an Materialien ready to read, es ist ein ungerastertes Koordinatensystem, das gerade allein durch neuartige Verbindungen nonlineale, delinealisierte Momente aufscheinen lässt. Man geht ganz selbstverständlich durch verschlossene Türen, bewegt sich, als ob es gar keine Türen gäbe. Der Witz einer solchen Bewegung besteht darin, dass sich Historie allein in der Gegenwart abspielt und vielleicht sogar, und das wäre das utopische Moment, gerade für eine Zukunft, die sich nicht traumatisch an die Vergangenheitsmomente klammert, sondern sich an eine Praktik einer aktualisierten Geschichte verausgabt, deren prozessorientiertes Sein institutionelle Gefüge laufend dynamisiert: ein Institutionen-Werden, das sich eben nicht einer drohenden Normierung durch das Digitale hingibt, sondern die basalen Dinge, die keineswegs immer ganz einfach sind, prolongiert, das Warten und Vergessen durch eine eigene, singuläre und individuelle Praktik in ein Intervall setzt. Ein Intervall, das sich durch laufende Einschübe in ihren Mitten verlängert. Deshalb kann man auch immer wieder in diese Ausstellung gehen, ohne Gefahr zu laufen (zumindest bei einigen Arbeiten) erneut das Gleich zu sehen.
Es geht hier weder darum dem Digitalen einen Fluch noch dem Analogen ein Heilsversprechen nachzusagen. Die basalen Dinge entscheiden sich nicht im digitalen oder analogen. Sie werden durch eine Wachheit ermöglicht, die einer künstlerischen Praktik zuspielt. Das Eine nicht ohne das Andere. Das Digitale aber ist wie eine Institution zu behandeln, deren netzbasierte Formherrschaft laufend (auch mit analogen Mitteln) durch instantane Praktiken in Frage zu stellen ist. Das Analoge erscheint hier als materieller Widerstand, dessen Distributions- und Reproduktionsradius limitiert ist. Auch wenn die instantanen Fragmente für kurze Zeit eine Intensität halten können, die etwas Historisches Aufscheinen lässt, so ist aber die Inszenierungsstrategie an eine tiefe Melancholie geknüpft. Sie ist ein Kampf um die Wachheit eines intensiven Moments, der im alltäglichen Traum verschutt zu gehen droht. Die Melancholie gehört nicht mehr ins Ahnenregister der Geschichte, sondern wandert als produktives Moment in die künstlerische Praktik. Sie tritt damit das Erbe des genuin Schöpferischen an, das nicht mehr an ein Subjekt gebunden ist, sondern an ein Band zu einem ethisch-sozialen Impuls. Merkwürdiger Wandel.
Andere Arbeiten gehen der Frage nach, welches Verhältnis Film und Wirklichkeit eingehen, wenn sich Motive der beiden Sphären treffen und die Übergänge von Film und Wirklichkeit unscharf werden. In Form einer klassisch-wissenschaftlichen Recherche haben Studierende der Filmwissenschaft akkumuliertes Material systematisch für eine Filmgeschichtsschreibung anhand von Sujets (z.B. Filmszenen des Schuheessens) neu angeordnet. Der unterhaltsame Aspekt der filmhistorischen Praktik, lässt leicht vergessen, dass sich hier ein merkwürdiger Wissenschaftsfetischismus eingeschlichen hat, der Bücher in vitrinenartige Rahmungen an der Wand wie Kleinode ausstellt (Michel Foucault: Der Fall Riviere).
Auch die Recherchearbeit der Suche nach Archivmaterial von Statuen ehemaliger Kolonialherren in Westafrika verfährt zunächst akkumulativ, kommentiert aber zugleich das zu Sehende und bindet es in eine postkolonialistische Geschichtsschreibung ein. Mit der Arbeit von Susanne Sachsse ist auch eine feministische Position in der Verhandlung historischen Bewusstseins vertreten. Die deutlich abgenutzten Begriffe, des Post-Feminismus, Post-Kolonialismus benötigen eine Revision ihres kritischen Gehaltes und eine Prüfung an den konkreten (archivarischen) Praktiken.
Was man für die Ausstellung living archive benötigt ist, wenig überraschend, Zeit und – das ist schon schwieriger – ein Erspüren jener imaginären Bilder der Historie. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten zeitbasierter Medien wie dem Film, dass sie durch ihre Dauer als widerspenstiges Konsumgut auftauchen und eben genau das einfordern, was uns so teuer geworden ist. Darin liegt ihre (aber nicht alleinige) Chance.
LIVING ARCHIVE
6.-23.6.2013
KW Institute for Contemporary Art
Augustr. 69
10117 Berlin
Öffnungszeiten
Mi – Mo 12 – 19 h
Do 12 – 21 h
Dienstags geschlossen