In SHUTTER ISLAND inszeniert Martin Scorsese eine Vollzugsanstalt für psychisch kranke Kriminelle, welche sich auf einer abgelegenen Insel irgendwo im Nebel der Küste von Boston befindet. Michel Foucault, ein französischer Philosoph, beschäftigte sich viel mit institutionellen Machtsystemen, den so genannten ‚totalen Institutionen‘, wie Gefängnissen, Krankenhäusern oder Psychiatrien und interessierte sich auch für die Begriffsgeschichte des Wahnsinns.
Dieser Essay ist der Versuch, Martin Scorseses SHUTTER ISLAND auf das Foucault’sche Konzept der Macht der Psychiatrie hin zu untersuchen.
In dem Film, der vor drei Jahren auf der Berlinale 2010 seine Premiere feierte, geht es um die Suche nach einer Insassin der Institution, die unter mysteriösen Umständen aus ihrer Zelle verschwunden und wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Zur Aufklärung des Falls werden der verwitwete Kriegsveteran und unter wiederkehrenden Alpträumen leidende U.S. Marshal Edward Daniels (Leonardo di Cabrio) und sein Kollege Chuck Aule (Mark Buffalo) auf die Insel berufen. Dort treffen sie den charismatischen Anstaltsleiter Dr. John Cawley (Ben Kingsley) und den leitenden Arzt Dr. Jeremiah Naehring (Max von Sydow), ein emigrierter deutscher Psychiater. Während ein gewaltiger Sturm die Insel vom Festland komplett abschneidet und Edward Daniels von immer stärker werdenden surrealen Fieberträumen geplagt wird, scheint immer deutlicher, dass auf dieser Insel Einige etwas zu verbergen haben. Als dann die Entschwundene so plötzlich wieder auftaucht, als sei sie nie weg gewesen, scheinen die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn langsam zu verschwimmen…
In einer der Schlüsselszenen des Films, welche bezeichnenderweise im düster über der Insel thronenden Leuchtturm stattfindet, versucht der Anstaltsleiter Dr. Cawley, den U.S. Marshal Edward Daniels mithilfe dessen vermeintlichem Kollegen Chuck Aule, der sich in dieser Szene jedoch als einer der Ärzte der Anstalt, Dr. Lester Sheehan, vorstellt, davon zu überzeugen, dass er nicht derjenige Staatsdiener sei, für den er sich hält, sondern der psychisch kranke und höchst gefährliche Insasse Andrew Laeddis, der unter einem schweren Trauma leide, weil er die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sowie den Tod seiner beiden Kinder und die Ermordung seiner Frau Dolores (Michelle Williams) nie verwunden habe. Mit diesem angeblichen Rollenspiel hätten die beiden, Dr. Cawley und Dr. Sheehan, bei Edward Daniels/Andrew Laeddis einen heilenden Erkenntniseffekt provozieren wollen, der jedoch misslungen zu sein scheint.
Die Macht der Psychiatrie
Die „Macht der Psychiatrie“ ist eine Vorlesung, die der französische Philosoph Michel Foucault 1973/74 am Collège de France abgehalten hat. Diese lehnt sich an ein Konzept von Macht und das Modell der Disziplinargesellschaft an, welche Foucault 1975 in seinem Werk „Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses“ weiter ausarbeitete. Das von ihm etablierte Konzept der psychiatrischen Macht bezeichnet weniger eine subjektive auf jemanden oder etwas gerichtete Macht, sondern eher eine Form des Handelns oder Verhaltens, die keineswegs an Personen, wie beispielsweise den Arzt oder Psychiater, gebunden sein muss, sondern sich in Architektur, Kleiderordnungen, Instrumenten oder auch Handlungsweisen manifestieren kann. (Vgl. Beljan [2008]: 142) Der Arzt sei somit lediglich die körperliche Materialisierung der psychiatrischen Macht innerhalb der Psychiatrie. (Vgl. Foucault [2005]: 17)
Aufgabe der Psychiatrie ist es also, die durch den Wahnsinn gestörte Ordnung mithilfe eines psychiatrisch-medizinischen Wissens, eines eigens ausgebildeten Anstaltspersonals und der Anstaltsarchitektur wiederherzustellen. Der Arzt, Träger der Erkenntnis über die Krankheit und Vertreter der medizinischen Wissenschaft sowie ausführendes Organ der psychiatrischen Macht, ist zu bestimmten Eingriffen und Entscheidungen berechtigt. (Vgl. Foucault [2005]: 496) Diese Handlungsmacht bedarf jedoch einer institutionellen Rechtfertigung – der Wahnsinn muss als etwas deklariert werden, was der Behandlung durch einen Arzt bedarf. Ein wichtiger Schritt zur Legitimation der psychiatrischen Praxis ist die Feststellung eines Zusammenhangs von Verbrechen und Geisteskrankheit:
„[…] [D]ie Anheftung einer Geisteskrankheit an ein Verbrechen und im äußersten Fall einer Geisteskrankheit an jedes Verbrechen war das Mittel, die Macht der Psychiatrie zu begründen […]; wir sind da, um die Gesellschaft zu schützen, weil es ja im Kern jeder Geisteskrankheit die Möglichkeit eines Verbrechens gibt. An ein Verbrechen so etwas wie eine Geisteskrankheit zu heften, das ist […] eine Modalität, um sicherzustellen, daß das Individuum der allgemeinen Funktionsweise dieser Zuweisung der Geisteskrankheit zum Verbrechen unterworfen wird.“
(Foucault [2005]: 360)
Das Interesse der Psychiatrie besteht laut Foucault also in erster Linie nicht in einer medizinischen Heilung ihrer Insassen, sondern vor allem darin, die durch die Existenz des Wahns gestörte soziale Ordnung (wieder-)herzustellen beziehungsweise zu wahren. Sowohl das psychiatrische Asyl als auch die Strafanstalt, das Besserungshaus, das Erziehungsheim oder auch das Krankenhaus und somit alle der Kontrolle des Individuums dienenden Instanzen funktionieren somit gleichzeitig als Zweiteilung und Stigmatisierung, indem sie die Individuen in Kategorien einteilen und sie mit Etiketten versehen: krank – gesund, wahnsinnig – nicht-wahnsinnig, gefährlich – harmlos oder normal – anomal. (Vgl. Foucault [1992]: 256) Mit der Definition dessen, was als normal oder als abweichend gilt, verfolgt die institutionelle Logik ihren Machtanspruch. Das Gefängnis und die Psychiatrie als umformende und normalisierende Disziplinarapparaturen sind somit durch drei Merkmale gekennzeichnet: die Freiheitsberaubung, die permanente Überwachung und die technische Umformung der Individuen.
Leuchtturm und Lobotomie
Durch die Verbindung von Verbrechen und Geisteskrankheit hat sich die Macht der Psychiatrie also als gesellschaftlich notwendige Instanz etabliert. Die Anstalt, die Scorsese in SHUTTER ISLAND inszeniert, entspricht dementsprechend quasi der ultimativen Psychiatrie, da dort sowohl psychisch Kranke als auch Kriminelle interniert werden. Der Leuchtturm der Insel bildet das symbolische (Überwachungs-)Zentrum dieses Disziplinierungsapparates, den diese Institution darstellt.
Die Macht der Psychiatrie materialisiert sich im Körper des Psychiaters Dr. Cawley, dem Direktor der Anstalt, welcher sich in einem Foucault’schen Sinne als „Herr über Wahnsinn und Realität“ vorstellt. Der Leuchtturm bildet den Ort der Zuteilung des Wahnsinns, indem die Realität der Hauptfigur Edward Daniels als eine falsche, psychotische Realität erklärt wird:
„You‘ve been here for two years. A patient of this institution. […] You came here for the truth, here it is: Your name is Andrew Laeddis. […] Your crime is terrible, one you can‘t forgive yourself for, so you invented another self.“
(Scorsese [2010]: Dr. Cawley, 01:44:11 – 01:46:05)
Die Frage des Psychiaters ist die Frage nach dem Wahn und dementsprechend geht es bei der Befragung des Patienten zunächst um eine Untersuchung der (biografischen) Vorbedingungen für den Wahn. Diese Vorbedingungen müssen dann in den Kontext der Anomalie gestellt werden, denn diese stellt die Bedingung der Möglichkeit des Wahnsinns dar und den Horizont, an dem man diese Erscheinungen als Symptome der Krankheit deklarieren kann. (Vgl. Foucault [2005]: 395) Perfiderweise kann aber eigentlich alles, jedes vergangene Ereignis als traumatisch gelten und als Symptom kategorisiert werden, denn, so der Soziologe Erving Goffman, schon der Eintritt des Individuums in die Anstalt setzt das interne Interpretationsschema in Gang, wonach dieses Eintreten in die Institution schon ein sichtbarere Beweis dafür ist, dass der Betreffende zu den Menschen gehört, für die die Institution eingerichtet wurde. (Goffman [2004]: 87)
Der wichtigste Bestandteil der Patienten-Befragung besteht darin, ein so genanntes ‚zentrales Geständnis‘ zu erzwingen, in dem die befragte Person den Wahnsinn nicht nur akzeptiert, sondern auch selbst bestätigt. Die Kunst besteht hierbei darin, das Subjekt an den Punkt zu bringen, an dem ein Geständnis in Form eines „ich bin verrückt“ unausweichlich wird:
„Es ist gezwungen zu sagen: Ich bin derjenige, für den man das psychiatrische Krankenhaus entworfen hat, ich bin derjenige, der einen Arzt braucht; ich bin krank, und weil ich krank bin, ist es klar, daß Sie, der die Funktion hat, mich zu internieren, der Arzt sind.“
(Foucault [2005]: 398f)
An diesem Punkt sind die finale Bestätigung und Konsolidierung der Übermacht der Psychiatrie am Individuum vollzogen und die Rollen klar verteilt: der Befragende ist der behandelnde Arzt, der Psychiater; der Befragte ist der kranke Patient, der Psychotiker.
Der Leiter der Institution, Dr. Cawley, erscheint hier nicht nur als Verkörperung der psychiatrischen Macht, sondern auch als der eigentlichen Ermittler in dem Film, der die verdrängten Erinnerungen ans Tageslicht bringt, um so eine traumatische Belastung als Ursache der psychischen Störung Edward Daniels‘ festzustellen. Tatsächlich erinnert er optisch auch an das Bild des Detektivs, welches Sir Arthur Conan Doyle mit seiner emblematischen Figur des Pfeife rauchenden Sherlock Holmes geprägt hat. Seine Figur ist in eine Aura des Wissens gehüllt, der Anstaltsraum und sein Körper haben sich aneinander angeglichen: das Innere des Leuchtturms stellt eine verkleinerte, auf das Wesentliche reduzierte Version seines psychiatrisch-medizinischen Wissens dar. An seinem Schreibtisch sitzend, mit seinen Papieren, dem Telefon und der Tafel symbolisiert er die Kenntnis über die Krankheit und den kranken Menschen im Allgemeinen. Er ist Symbol der institutionellen Logik, die bestimmt, was als normal oder abweichend angesehen wird, und der psychiatrischen Macht, deren Insignien er trägt und ausführt: Er hat das Wissen über die Biografie des Patienten, erstellt eine Diagnose und besitzt die Dokumentation seiner Beobachtungen in einem Dossier und hat die Methode des unkonventionellen Heilverfahrens – das angebliche Rollenspiel – bestimmt.
Das Ziel der Unterhaltung zwischen dem US-Marshal Daniels und Dr. Cawley ist es, die Wahrheit zu ergründen. Daniels möchte im Leuchtturm die Beweise für seine Vermutung finden, dass auf der Insel Menschenversuche gemacht werden, der Psychiater möchte ihn jedoch für wahnsinnig erklären. Aus diesem Grund werden all die bisherigen Erlebnisse Daniels auf der Insel sowie seine gesamte Identität in Frage gestellt. Alles, was der U.S. Marshal sagt oder tut, wird im Lichte der Psychose gesehen:
„Once you‘re declared insane, then anything you do is called part of that insanity. Reasonable protests are denial. Valid fears, paranoia.“ – „Survival instincts are defense mecanisms.“
(Scorsese [2010]: Edward Daniels / Rachel Solando (Höhle): 01:21:54 – 01:22:08)
Der U.S. Marshal ist hier also in eine Falle getappt. Der Raum im Leuchtturm bietet keine Fluchtmöglichkeit, er ist der psychiatrischen Macht und ihren institutionellen Mechanismen schutzlos ausgesetzt. Gegen die Übermacht der Psychiatrie kann er sich nicht wehren, er hat der Zuweisung seiner Psychose, die mittels einer einfachen Beweisführung an der Tafel vollzogen wird, nichts mehr entgegenzusetzen. Seine Vergangenheit wird als Trauma deklariert und seine gesamte Person wird symptomatisiert:
„Patient is highly intelligent, highly delusional decorated Army veteran. Present for the liberation of Dachau. Former U.S. Marshal. Known proclivity for violence. Shows no remorse for his crime because he denies the crime ever took place. Highly developed and fantastical narratives, which preclude facing the truth of his actions.“
(Scorsese [2010]: Edward Daniels (Intake Form): 01:44:49)
Mit dieser Deklarierung einer psychologischen Vorbelastung wirken plötzlich die Handlungen der Hauptfigur immer fahriger, die Halluzinationen treten häufiger auf, sodass Daniels schließlich unter der psychiatrischen Übermacht zusammenbricht.
Das Schuldbekenntnis
In der nächsten Szene befindet sich Daniels in einer Zelle, der U.S. Marshal ist zu einem Teil der Anstalt geworden: er trägt die Kleidung eines Insassen, um sein Bett herum sind die verschiedenen ausführenden Subjekte der Anstalt arrangiert – eine Pflegerin, sein ehemaliger Partner Chuck Aule als sein behandelnder Arzt Dr. Sheehan sowie der Direktor der Anstalt, Dr. Cawley. Solchermaßen in die Enge gedrängt, erwartet man vom ihm lediglich noch das ‚mea culpa‘ des Verrückten: „We need to hear you say it.“ (Scorsese [2010]: Dr. Cawley, 02:00:01) Sollte er sich trotz des angeblichen Experiments nicht als geheilt erweisen – und ‚geheilt‘ meint in einem der institutionellen Logik entsprechenden Sinne ‚sich seines Wahnes gewiss‘ – ist die Legitimation der psychiatrischen Macht in Gefahr: „If we fail with you, then everything we‘ve tried to do here will be discredited. Everything.“ (Scorsese [2010]: Dr. Sheehan, 01:50:09)
Um die Existenz der Psychiatrie zu rechtfertigen, muss dem Wahn die Realität mithilfe ärztlicher Instrumente übergestülpt werden. Sollte sich zeigen, dass das Experiment des Dr. Cawley – „the most radical cutting-edge role-play ever done in psychiatry“ (Scorsese [2010]: Dr. Cawley, 01:49:33) – nicht zu einer Akzeptanz der psychiatrischen Realität geführt hat, ist die Legitimation der Anstalt als solche in Gefahr und das Individuum muss bestraft werden:
„I wish I could let you live in your fantasy world. I really do. But you‘re violent, trained, dangerous. You‘re the most dangerous patient we have. […] It‘s been decided that unless we can bring you to sanity now, right now, permanent measures will be taken to ensure that you can‘t hurt anyone ever again. They‘ll lobotomize you, Andrew. Do you understand?“
(Scorsese [2010]: Dr. Cawley, 01:46:43 – 01:47:50)
Dem ‚gefährlichsten‘ Patienten, der sich der Realität der Anstalt entzieht, indem er sich eine eigene Realität erschafft, blüht in diesem Sinne die psychiatrische Höchststrafe: die Lobotomie. Nur so kann die Ordnung wiederhergestellt und die psychiatrische Macht konsolidiert werden.
Und tatsächlich zeigt die letzte Szene des Films einen Außenraum, in den die Ordnung wieder eingekehrt ist. Zum ersten Mal im Film scheint die Sonne, der Sturm hat sich verzogen – es scheint als habe es ihn nie gegeben. Damit bestätigt sich die Macht der Psychiatrie im Sinne Foucaults als Kontrollinstanz und Normierungsanstalt zur Gestaltung der nützlichen Körper. Ist diese Umgestaltung nicht möglich, folgt die Bestrafung des Körpers, die Auslöschung der Emotionen durch die Lobotomie.