Die Widerständigkeit des Ortes

Die 3-Kanal-Videoinstallation Muster (Rushes) von Clemens von Wedemeyer auf der dOCUMENTA(13)

Ein Ort, drei Zeiten. Das Benediktinerkloster Breitenau in der Nähe von Kassel liefert das Arsenal historischer Schauplätze für die im Dreieck angeordneten Screens. Jeder Screen entfaltet eine Zeitschicht: die Befreiung vom KZ-Breitenau durch die Amerikaner 1945, die Dramatisierung der inneren Zerrissenheit eines weiblichen Schauspielensembles bei den Proben zum Film Bambule 1970, zu dem Ulrike Meinhof das Script geschrieben hat und der in dem mittlerweile zum Mädchenerziehungsheim umfunktionierten Kloster Breitenau gedreht werden soll. Schließlich die Führung einer Schulklasse durch den Gebäudekomplex im Jahre 1990, der nunmehr als Teil einer psychiatrischen Klinik verwendet wird. Der Film inszeniert Breitenau als Ort einer finsteren Geschichte der Internierung und Bildung im 20. Jahrhunderts.

Clemens von Wedemeyer, MUSTER/ RUSHES (2012)

Clemens von Wedemeyer „MUSTER (RUSHES)“, 2012, dOCUMENTA(13), Foto: Henrik Stromberg.

Ein Dreieck deutscher Geschichtsschreibung, die sich an den drei großen Daten der Nachkriegszeit abarbeitet: ´45, ´68 und ´90. Zeiten des Neuanfangs, der Revolution, der Vereinigung – ein klaustrophobisch geschlossenen Triptychon, das in anamorphotischer Sicht aus den jeweils drei möglichen Ecken des Dreiecks Vergleichsmöglichkeiten bietet, die jeweils gleichzeitig zwei Zeitschichten in den verzerrten Blick rücken und eine dritte Zeitebene akustisch heraushören lässt. Zunächst einmal die Narrative:

1945 ist Schloss Breitenau von den Nazis als Arbeitslager und Zwischenlager für das KZ Buchenwald umfunktioniert. Ein Gefangener berichtet einer Fotografin (Angela Melitopoulos, die selbst an einem Beitrag auf der dOCUMENTA(13) beteiligt war, der im filmischen Rahmenprogramm der dOCUMENTA(13) lief: Otolith Group The Radiant (2012)), dass er zusammen mit einem anderen Häftling zwei Tage zuvor eine Grube ausheben musste, in die einige Gefangene per Kopfschuss direkt vor Ort exekutiert wurden. Der amerikanische Offizier ist mit der Situation sichtlich überfordert und zeigt ein unwissendes Desinteresse an der Befreiungssituation. Er tritt weniger als Befreier, denn als erschöpfter und überforderter Krisenmanager auf. Weder bei der Schlüsselübergabe ist er in der Lage die Wichtigkeit dessen richtig einzuschätzen, noch versteht er, was die russischen und französischen Gefangenen ihm zu sagen haben. Immer wieder kommt es zu Gerangel, Unübersichtlichkeit ist alltäglich. In vielen Plansequenzen scheint die Kamera immer wieder den Versuch zu starten die Unordnung zu ordnen. Zeit zu erfassen: nicht die Kamera dominiert, die Zeit tut es und lässt die Nervosität der erkalteten Körper spürbar werden. Der deutsch-englische Dolmetscher kommt ebenfalls an seine fachlichen Grenzen: man kann zwar gegen Nationen mit anderen Sprachen Krieg führen, sich mit ihnen unterhalten – das ist selbst in der Befreiung nicht möglich. Und so richtet sich das Zeugnis des kahlköpfigen Gefangenen nicht an den Offizier, sondern an die Fotografin: Geschichten müssen nicht nur befreit, sie müssen auch erzählt und dokumentiert werden.
An dieser Stelle findet beispielsweise eine der vielen pointiert gesetzten Korrespondenzen mit einer anderen Zeitebene statt: während der Gefangene die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt, referiert eine der Schülerinnen als weibliche auktoriale Erzählstimme die gleiche Geschichte aus einem Schulbuch, während sie mit ihrer Klasse in einer Nachtwanderung den gleichen Weg abläuft, den einst die Gefangenen auf dem Weg in ihr Grab zu gehen hatten.

1970 finden die Dreharbeiten zum Film Bambule statt. Kloster Breitenau ist ein streng geführtes Mädchenerziehungsheim. Die Darstellerinnen, wenig überzeugt von ihren Rollen und gedemütigt vom Regisseur, wandeln durch das Schloss und geraten so in die Mauern, die die Gefangenschaft in streng disziplinierten Arbeitsroutinen bedeuten (die Puppenwerkstatt) und eine sozial-hierarchische Kälte zwischen Erzieherinnen und Internierte freisetzt. Welchen Sinn kann ein Film haben, fragen sich die Schauspielerinnen, der sozial-revolutionäre Utopien verhandelt, wenn der konkrete Dialog mit den internierten Mädchen seitens des Regisseurs ignoriert wird und dessen resignatives Interesse einzig auf eine möglichst zuschauergerechte Umsetzung für´s Fernsehen schielt? Da haben der Oberbeleuchter und sein Assistent eine stärkere Einsicht in die Hierarchie der Lebenswelt und mehr Solidarität für die Zweifel der Schauspielerinnen übrig. Sucht die Schauspielerin die Ausnüchterungszelle auf, um sich dort selbst einen Eindruck vom Leben der Mädchen zu machen, empfangen diese sie verächtlich bei ihrem Ausstieg. Das Aufsuchen des Leids der Anderen betont unweigerlich die Differenzen: die Schauspielerin kehrt ein und aus nach freien Stücken – den Heimmädchen steht dies nicht zu. Dennoch dient die Ausnüchterungszelle einer empathischen Keimzelle für eine Dialogaufnahme zwischen den Frauen. So wird denn auch das gemeinsame Essen der Schauspielerinnen und der internierten Mädchen in der Kirche zum Gespräch der gebeutelten Biographien. Die Einen wollen jeweils auf die Seite der Anderen. Die Differenzen verschwinden da, wo der Regisseur lediglich eine sozial-revolutionäre Idee drüberzieht und sich Ruhm im Schein einer filmischen Utopie erhofft. Beeindruckend die Szene, in der die beiden Schauspielerinnen die Wände einer Zelle soweit demolieren, bis die Wand umkippt, die Filmkulisse sichtbar wird und die Frauen das Studio verlassen. Aggression jener internierten Mädchen wird mit der Aggression der Schauspielerinnen identisch. Der weibliche Körper schlägt sich in dieser metamedialen Reflexion auf die ´68er aus seiner utopischen Schale und kommt zur konkreten Handlung in einer Zeit, die bei aller Sozialrevolution ihre eigenen Kinder vergas. Dies u.a. zeigte ja Petzold auch eindrücklich in der Inneren Sicherheit. Auch hier findet wieder eine der Korrespondenzen statt: während die Frauen die Filmstudiokulisse auseinandernehmen, rockt ein Konzert mit der Musik der ´80er, die an Einstürzende Neubauten erinnert (tatsächlich ist es die Band: DIE FREMDEN mit Ich bin fremd hier).

1990 macht eine Schulklasse eine Führung durch das Schloss Breitenau. Sie sind mit allem beschäftigt, nur nicht mit dem Ort selbst. Da ist die Zigarettenpause und eben jene Rock-Band, die am Abend spielen wird, interessanter, als die trocken-biedere Education-Tour des Lehrers. Obgleich auch die Schüler_Innen im Laufe der Erzählung durch Vorlesen von Texten zwischen Lernzwang und langsam erwecktem Interesse pendeln. In der Tour wird immer wieder auf Mauern verwiesen, aber vor allem auf jene Mauer, die die Kirche vom Gefängnis trennt. Die Zeitebenen des Schlosses verwischen in ihrer verwinkelten Einsamkeit. Kloster, Psychiatrische Klinik, Mädchenheim, Gefängnis oder KZ?
In jeder der drei Zeitebenen gibt es Störungen der Vermittlung: die Sprachbarrieren zwischen den Alliierten, die sozial-revolutionäre Utopie, die sich in der konkreten Lebenswelt der Protagonistinnen als hinderlich erweist sowie die Oberlehrertour, in der die reale Erfahrung der Schüler_Innen eine viel stärkere Impression (das Schattenspiel) hinterlässt als alle Mauererklärungen. Die Störungen bilden somit eine Folie der Verfehlungen sozialer Wirklichkeit im 20. Jahrhundert am Beispiel dreier großer deutscher Daten. Ähnlich dem Plateau-Gedanken von Deleuze und Guattari entfaltet sich an einer konkreten Jahreszahl eine Ebene erhöhter Intensität. Durch die räumlich-geometrische Anordnung schwappen mitunter Soundfetzen von anderen Ebenen herüber und fordern einerseits zur Selektion, andererseits zum Vergleich auf. Auch ziehen sich Kontinuitäten in der Besetzung durch die Installation: der Dolmetscher kehrt als Regisseur und schließlich als Lehrer wieder. Durch gezielt synchronisierte Eruptionen der Narrationen treten die Ebenen in eine außerzeitliche Korrespondenz, die eben jene Kontinuitäten der Störung in ihren unterschiedlichsten Formen aufzeigt. Liest man diese Störungen semiotisch als Imperativ eines Perspektivwechsels so war die Luft des 20. Jahrhunderts versifft von Ideologie und dem Fehlen konkreter sozialer Handlungen. Dem liegt ein ungebrochener Optimismus zugrunde: es habe keineswegs der menschlichen Bereitschaft zur Zeugenschaft und eines autodidaktischen Lernzuganges Abbruch getan hat. Das eigentlich Widerständige, das die Videoinstallation durch diesen Erinnerungsort par excellence aufzeigt, ist die leibliche Zeitzeugenschaft und die Sensibilität eines Ortes, der sich durch die dominierenden Dokumentationsmedien Architektur, Fotografie, Musik, Film und Sprache zeigt.

Filmtitel: MUSTER (RUSHES)
Produktionsjahr: 2012
Produktionsland: BRD
Regie: Clemens von Wedemeyer
Kamera: Frank Meyer
Filmlänge: 3x27min
Format: 3-Kanal-Videoinstallation
Produktion: dOCUMENTA (13) mit ZDF 3sat; Kadist Art Foundation, Paris; Medienboard Berlin Brandenburg; Nordmedia, Hannover; Hessische Filmförderung HR, Frankfurt a. M.; Galerie Jocelyn Wolff,

[1] Webseite von Clemens von Wedemeyer: www.antifilm.de

[2] Webseite der Galerie Jocelyn Wolff mit weiterführenden Links: Galerie Jocelyn Wolff

[3] Aktuelle Ausstellung in abc berlin vom 13.09.-16.09.2012: abc berlin