Die Nostalgie eines besseren Morgens

Ein Versuch zur HBO-Serie Boardwalk Empire

Vielfach ist zu von einer „Optik des Kino-Looks“ zu lesen, der selbst bereits ein Merkmal von Qualität und Exklusivität auf dem Markt des Seriellen sei. Mit dem Look sind meist die in dramatisches Licht getauchten opulenten Schauplätze gemeint, sowie die historische Ausstattung. BOARDWALK EMPIRE (USA//HBO, 2010 – 2012) destilliert sich aus spezifischen Genreformaten des Kinos, dem des Gangster- und des Historienfilms, sowie einer unverhohlenen Verwendung neuester CGI-Verfahren seinen kinematographischen Reinheitsgrad. Zur ökonomischen Absicherung verlässt man sich auf die drei großen A’s: Autorität, Authentizität und Autorschaft. Die Autorität des Produzenten und Distributors, dem Pay-TV-Kanal HBO; man verlässt sich auf die handwerkliche und intellektuelle Kapazität und Könnerschaft jener archivarischen Praxis des Art Departments, das historische Authentizität garantiert; und schließlich verlässt man sich auf die Autorschaft von Terence Winter, der bereits die Erfolgsserie DIE SOPRANOS (USA//HBO, 1996 – 2003) schrieb und produzierte und nicht zuletzt kam mit Martin Scorcese erneut eine Autorität hinzu, die nicht nur im Kino, sondern auch im Gangsterfilm heimisch ist.

Die für eine Serie ungewöhnlich vielen luciden Kamerafahrten in BOARDWALK EMPIRE dynamisieren nicht nur den Raum, sondern feiern zugleich ein optisches Regime aus Kostüm, Ausstattung, Make-Up und Charaktergesichtern. Sie entfalten auch im hochgradig detaillierten Ambiente historische Authentizität. Kein Negligé, das nicht schon allein wegen seines Werts als historisches Modeartefakt in den Fokus genommen würde; kein Blick, der nicht die kostbaren Texturen und Materialoberflächen durch haptisches Streiflicht warm und prominent ausleuchtet; keine Gelegenheit ausgelassen, in der nicht die Art-Deco-Räume den dritten paternalen Erzieher spielen dürfen. Räume mit einem kommenden Klang gutbürgerlicher Heimlichkeit. Räume mit einem gehenden Echo, schwer getäfelt mit ausgewilderten Augen, ausgestopft und abgestellt. Whiskey in the Jar! Es ist die Sattheit des Dekors, die zunächst die besondere optische Haptik dieser Serie ausmacht. Als ob die Schwere des Whiskeyglases in den Raum gegangen wäre, der erhellt wird durch ein braunwarmes Licht, das der ungepanschte Whiskey ausstrahlt. Der dokumentarische Zug die penible Akkuratheit der Rasur, des Maßanzugs und der Lederschuhe als alltägliche Kostümierung herauszustellen steht in einer Linie mit der Rekonstruktion zur größten Bühne: dem Boardwalk, die Uferpromenade zwischen Atlantic City und dem CGI-Atlantik.

Die Wasser aus Europa spülen Whiskey an eine Küstenstadt, die die Bretter höfischer Intrigen bedeutet. Kein zweiter beherrscht das Vexierspiel besser als Schatzmeister Enoch „Nucky“ Thompson (Steve Buscemi). Ein Parasit der ersten Stunde: keine Ladung Whiskey, wo er nicht behände und eilfertig in die Tasche greift. Mit den tagnacht Wellen schäumt die Schattenwelt des Puritanismus hervor, deren Faszination gerade in ihrer Geburtstunde liegt: das moderne Amerika im Spiegel organisierter Kriminalität in diapers – Al Capone (Stephen Graham) als Fahrer, Meyer Lansky (Anatol Yusef) und Lucky Luciano (Vincent Piazza) nur Mittelsmänner. Es ist die Zeit, in der das Licht der business opportunity Prohibition kleine wie große Akteure vom Versprechen einer besseren Zukunft besessen hält.

BOARDWALK EMPIRE nun ist die Serie des Verlustes jenes Glaubens an ein besseres Morgen. Mit einem tief melancholischen Zug beschwört die seichte, teils ironisch-sarkastisch kommentierende Jazzmusik eine Welt, die in der Gewissheit und dem ungebrochenen Glauben an den kontinuierlichen gesellschaftlichen Aufstieg fundiert ist. Zwar zeichnet sich im versteinerten Gesicht von Agent Van Alden (Michael Shannon) ein melancholischer Weltschmerz an der puritanischen Triebverdrängnis ab, viel stärker aber ist die nostalgische Perspektive der gesamten Serie auf die prosperierende Nachkriegszeit der 1920er Jahre. In ungebrochenem Transaktionsoptimismus werden die dortigen relativ überschaubaren Geschäftspraktiken betrieben und von einer heutigen Welterfahrenheit überschattet, in der die Gewissheit besteht, dass wirtschaftliche Prosperität nur mit der Erwartung der nächsten Rezession zu haben ist.

So sind denn die beiden Pole dieser Zeiterfahrung nicht allein in der Jazzmusik zu finden, deren Vinylnadel pendelartig mal melancholisch, mal feierlich ausschlägt: der kriegstraumatisierte Veteran Jimmy Darmody lebt in jener Zukunft, von der sein Ziehvater Nucky Thompson zwar als prognostisches Kalkül weiß, für die er aber nichts übrig hat. Michael Pitt spielt Jimmy als von sich selbst abgekapselten Schlägerburschen, der die tiefe Verunsicherung seiner Existenz in einen reizbaren Zwangsoptimisus des Self-made-gangsters hüllt. Ein verhinderter Intellektueller, dessen Konflikt mit der ödipalen Familienkonstellation und der Kriegserfahrung seine Unsicherheit nährt.

Die Kompetenzmaschine Nucky Thompson hingegen verliert nicht einen Gedanken an Zweifel über die Machbarkeit seiner Zukunft, solange er nur geschickt genug managed, sein network bei Laune hält und den Wunsch nach väterlicher Anerkennung nicht zu stark werden lässt – zum Preis skrupelloser Härte und einer Self-made-Moral: We all have do decide for ourselves how much sin we can live with. (BE, S1E12)* Nicht Aufrichtigkeit ist Nuckys Währung, sondern Vorsicht und Kalkulation, was ihn zu einem erfolgreicheren Prognostiker werden lässt als alle seine Geschäftspartner (oder die Handleserin, die ihre diffus-auratischen Dienste auf dem Boardwalk anbietet, BE, S1E1). Während Nucky dabei zu geschickt ist, um sich in seiner chamäleonartigen Hofierung der verschiedenen Interessengruppen bei seinen Geschäften vom Rechtssystem in die Enge treiben zu lassen und zu ausgefuchst, um sich über den Wert des Geldes zu täuschen, versucht Jimmy in verzweifelter Selbstaffirmation im Geld und Ansehen Trost zu finden und sucht psychologischen Halt in der Familie mit Angela (Aleksa Palladino) und Tommy (Brady/ Connor Noon). Hierin greift die Serie zum bewährten Repertoire sozial-psychologisch fundierter Motivationen.

Der steif und zugeknöpfte Dresscode zwecks offizieller moralischer Integrität autorisieren zu Kenntnissen jener Spielregeln in Atlantic City. Daher auch Nuckys Insistenz unter Anklage in seinen besten Kleidern seine Unschuld vor den Reportern zu beteuern. Und so zeigt sich denn die Serie im Shakespearschen Gewand von Vexierspielen mit teils ödipalen Koordinaten verschiedener, ausschließlich egoistischer Interessensvektoren und bedient sich damit dem europäischen Erbe, wie es Amerikanischer nicht sein könnte. Hier wird die ureigene amerikanische Ökonomie des Aufstiegs mit klassischsten Narrativen imaginiert: der Machtkampf zu Hofe und das familiäre Dreieck. So ist denn Jimmy derjenige, an dem sich die klassische Gangsterlogik von Aufstieg und Fall ausbuchstabiert. From rag to riches. Im Piloten der Serie gibt es eine entscheidende Konfrontation von Jimmy und Nucky, die Unsicherheit und Trostlosigkeit in Jimmys Gesicht und brüchige Stimme hochspült: „I am 22 years old. I see fellows like fucking Luciano with fancy suits, fucking diamonds.“ Nucky: „Is that what you want?“ „That´s what you want. It´s what we all want. At least I got the gumption to take it.“ „You would be very foolish to underestimate me, James. I could have you killed.“ „Yeah, but you won´t.“ Eins ist klar: das Kalkül mit den väterlichen Gefühle von Nucky für Jimmy wird da aufhören, wo einer der beiden es aufkündet. Blood is thicker than water.

Am Ende jeder Staffel schwingt sich die Montage zu kinematographischen Höhen auf und zitiert die berühmten Parallelmontagen aus DER PATE I-III (Francis Ford Coppola, USA, 1972/1974/1990). Parallel zur Pressekonferenz werden Morde montiert, die der offiziellen Version dienen (BE, S1E12). Gleiches Prinzip andere Handlungen in der letzen Folge der zweiten Staffel (BE, S2E12): Proben der Staatsanwältin zur Gerichtsverhandlung laufen Aktionen parallel, die den Hauptangeklagten Nucky Thompson entlasten. Diese Liquidierungs-Montagen sind nicht moralisch angelegt: sie lassen jegliche Moral hinter sich und zeigen eher die Spielregeln auf, mit der das Rechtssystem umlaufen wird.

Stärker noch als die Egoismen selbst, betont BOARDWALK EMPIRE die Handlungen, die aus ihnen enstehen und immer auch ein Grenzüberschreitungen zum physischen Exzess sind: Gewalt (BW, S2E07: der Garotte-Mord in der Toilette), Sex (BW, S01, E12: Van Alden und Lucy) und Feiern (BW, S01, E01). Sie geben einer tausendjährigen Kapselwelt Fleisch, die nur etwa zehn Jahre andauerte und in der der Stadtstaatenterrorismus ein weiteres Mottenloch in die demokratisch-patriotische Flagge gefressen hat. In einer etwas zugespitzt formulierten These ließe sich sagen, dass Jimmy, der (selbst-)verkannte Prophet, der Zukunft von Atlantic City voraus ist. Ganz nach dem Motto: wer nicht die Zeichen vor der eigenen Tür der Vergangenheit kehrt, für den hält das Heim der Zukunft nur die alten Probleme bereit.

Als Parasit lebt es sich dagegen besser, solange man sich die Dinge gefügig zu machen versteht. Stet’s zu Diensten: Telefone, Polizei, schwarze Angestellte. Nucky beherrscht das Spiel des allpräsenten Telefons ebenso wie das seines ureigenen Heimspiels: über zuwiderlaufende Interessen die Kontrolle gewinnen. Telefone sind für Nucky weniger Hör- als vielmehr Sprachkanäle. Er gibt den Ton an. Er gibt die Anweisung zum Mord – freilich ohne sie direkt auszusprechen: politician to the very last. Er gibt die Erlaubnis zum Streik der ausschließlich schwarzen Angestellten, who keep the city running, sobald er weiß, dass es ihm politisch nicht schadet, seinen Feinden an Geschäften hindert und seinen Interessen nicht im Wege steht. Tatsächlich tut auch die Serie alles, das Empire des Nucky Thompson durch Nostalgie zu stützen.

So nimmt sich denn BOARDWALK EMPIRE in seiner Opulenz und Ernüchterung doch etwas schal aus. Die Texturen nutzen sich durch Beschau ab, die dramaturgischen Linien sind erschöpfend, die Referenzen verbleiben im Zitat. Die Polioerkrankung von Emily (Lucy/Josie Gallina), Margareths (Kelly MacDonald) Tochter, ist hierbei ein gutes Beispiel: etwas durchsichtig ist die dramaturgische Linie, die einzig dazu dient, Margareth in religiös-moralische Ungewissheiten zu stürzen und ihre Beziehung zu Nucky in Frage zu stellen, der ihre Verschwiegenheit und Treue benötigt. So verbleiben zahlreiche literarische Hinweise lediglich beim Zitat: beiläufig in einer peripheren Szene lehnt Agent van Alden eine Korruption mit den Worten „I prefer not to!“ ab, wird eine Referenz auf Bartleby, den Schreiber, Melvilles Protagonist des Unbestimmbaren, gemacht und mit einem „Does that mean no?“ wieder ad acta gelegt (BW, S2E11). Eine eher komische als intellektuell ernst zu nehmende Referenz.

So krankt dann die Serie an einem Willen zur Originialität, die durch eine Berechenbarkeit erstickt wird, die die dramaturgische Anlage fordert und offensichtlich der ökonomische Rahmen erzwingt (20 Mio $ allein für den Piloten). So ist denn BOARDWALK EMPIRE auch die Serie einer Dekadenz, deren gespenstisches Untergangsgeleut bereits in den Toten, die auf dem verregneten Weg Nuckys weggewaschen werden, anklingt. Nicht zufällig bahnt sich in einer der teuerstern zeitgenössischen TV-Produktionen der beste Manager in der Abenddämmerung seinen Weg als Zentralgestirn durch eine in Dekadenz prosperierende Welt. Mancherorts nehmen sich die narkotisierenden Schauwerte gar eher als Hörspiel aus: halb Ohr, halb Aug‘. Der Wahrnehmungsmodus einer Serie gerät damit nicht nur zum seismographischen Zeichen der eigenen Rezeptionsökonomie, sondern zeigt auch eine etwas durchhängende Intensität der Serie selbst an – ihr dramaturgisches Futter wird durchsichtig, enthüllt die meist psychologischen Muster und erschöpfen sich in einer erschließenden Logik. Liegt nicht der Reiz vieler Serien gerade darin, dass die Dinge eben nicht so ganz aufgingen? Dass es da einen Rest an Unerklärlichem gab?

Andererseits kündet sich vielleicht die Rettung einer Art des Kinofilms durch das neu entdeckte epische Format der High-Quality-TV-Serien an. Damit wäre Martin Scorceses Schritt nicht nur einer in bekanntes, vorhersehbares Terrain, sondern auch eine etwas verspätet überführte Variante des New-Hollywoodfilms ins Fernsehen (und Internet-TV).

 

Filmtitel: Boardwalk Empire
Produktionsjahr: 2010-2012
Produktionsland: USA
Regie: Martin Scorsese, Allen Coulter, Timothy Van Patten
Drehbuch: Terence Winter, Nelson Johnson
Darsteller: Steve Buscemi, Michael Pitt, Michael Shannon
Filmlänge: 5 DISKS, 644min
Format: DVD und Blue-Ray, 16:9 - 1.77:1
Verleih: Warner Home Video

* BW, S1E02: Boardwalk Empire, Season 1, Episode 2.