Carlos Reygadas neuster Film POST TENEBRAS LUX (2012) bespielte im Rahmen des 7. Around the World in 14 Films Festivals das Berliner Babylon. Der mexikanische Regisseur, der für seine mystischen Filme bekannt ist, wurde auf dem Festival de Cannes 2012 mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet und erntete nicht nur Applaus: Viele Journalisten und Filmschaffende waren von der Entscheidung der Jury überrascht. Denn der Film entzieht sich den gewohnten Codes und will nicht um jeden Preis gefallen.
Während Reygadas mit dem visuell beeindruckenden Drama STELLET LICHT (2007), das von einer mennonitischen Enklave im Norden Mexikos handelt, noch geschlossene narrative Strukturen bediente, bewegt er sich mit POST TENEBRAS LUX hin zu einer Art intuitivem Auteur-Kino: Vergangenheit, Fiktion und mögliche Zukunft bilden eine merkwürdige Einheit, die viele Leerstellen lässt. So ist es jedem selbst überlassen, sich in Reygadas‘ autobiografisch angelegtem Film zu orientieren. Doch auf das lose, nicht- lineare Filmerlebnis muss man sich auch einlassen wollen.
Vielfalt und Mikrokosmos
Episodisch beobachtet der Regisseur in POST TENEBRAS LUX die Vielfalt der mexikanischen Gesellschaft, während er zugleich am Mikrokosmos einer wohlhabenden Familie haften bleibt. Diese lebt – wie der Regisseur selbst – auf dem mexikanischen Land. Auch die eigenen Kinder hat Reygadas den Filmeltern Juan (Adolfo Jimenez Castro) und Natalia (Nathalia Acevedo) an die Hand gegeben.
via mantarraya films
Wie also kann ein Film beschrieben werden, der sich einer gewöhnlichen Zusammenfassung entzieht? Vielleicht, indem man einige Szenen näher beleuchtet und versucht, die filmische Stimmung spürbar werden zu lassen.
In der Eröffnungssequenz sehen wir ein kleines Mädchen (Rut Reygadas) auf einer weiten Wiese. Während ein Sturm aufzieht, geht die Sonne farbenprächtig in den nahegelegenen Bäumen unter. Hunde und Pferde toben umher, gedankenversunken ruft das Mädchen die Tiere, später den Vater und die Mutter. Es wird dunkel. Nur noch schattenhaft ist die Silhouette des kindlichen Kopfes zu erkennen. Optisch liegt der Fokus in der Bildmitte, wobei eine Speziallinse dafür sorgt, dass die äußeren Ränder verschwimmen und Doppelungseffekte entstehen. Die Linse kommt fast durchgehend zum Einsatz. Unweigerlich denkt man hier an Terrence Malicks epischen Film TREE OF LIFE (2011).
Zwischen Traum und filmischer Realität
Dann befinden wir uns im Inneren einer bürgerlich anmutenden Wohnung. Im nächtlichen Korridor kommt uns ein schmaler, feuerroter (mäßig animierter) Teufel mit geschmeidigen Bewegungen und einem eisernen Werkzeugkoffer entgegen. Er öffnet eine Tür, die in das Zimmer eines kleinen Jungen führt und verschwindet in den benachbarten Raum. Reygadas erwähnte in einem Interview, dass diese Szene einen wiederkehrenden Kindheitstraum darstelle, den er in seinen Film einbinden wollte.
Während wir versuchen, die familiäre Atmosphäre im großzügigen Landhaus von Natalia und Juan auf uns wirken zu lassen, werden wir von einem plötzlichen Gewaltakt gestört: Juan prügelt einen seiner Hunde zu Tode. Diese bereits zu Beginn etablierte Distanz zum Protagonisten zieht sich durch den gesamten Film.
Selbstenthauptung als Metapher
In einer späteren Szene begeben wir uns mit Juan und Natalia in einen französischen Saunakomplex, dessen Räume „Hegel“ oder „Duchamp“ heißen. Juan sieht seiner Frau beim Sex mit fremden Männern zu, während ihr tränen- und schweißnasses Gesicht auf den voluminösen Schoß einer mütterlichen Frau gebettet ist. Ob es sich dabei um filmische Wirklichkeit oder um einen Traum handelt, bleibt dem Zuschauer überlassen.
Gegen Ende des Films reißt sich El Siete (Willebaldo Torres), ein benachbarter Gelegenheitshandwerker, in trashiger Manier den eigenen Kopf von den Schultern. Ob er Juan, der ihn beim Einbruch ins eigene Haus in flagranti erwischt, umgebracht hat, bleibt bis zuletzt unklar. Reygadas zufolge wurde die bizarre Selbstenthauptung von der derzeitigen politischen Situation in Mexiko inspiriert. Hinsichtlich des Titels und in Anbetracht seiner früheren Filme, lassen sich in POST TENEBRAS LUX auch biblische Referenzen finden.
Effekt und Freiheit
Die manierierten Effekte, die lediglich dem ästhetischen Gusto des Regisseurs zuspielen, können hingegen als Kehrseite einer dezidiert subjektiven Perspektive betrachtet werden. Selbst wenn die verschwommene Optik nur bei Außenaufnahmen und nicht in Innenräumen zum Einsatz kommt, verleiht sie dem Film keinen wirklichen Mehrwert, sondern lenkt durch die gefühlte Allgegenwart vielleicht sogar von einer tiefergehenden Rezeption ab.
Manche werden sich also an Reygadas‘ Film reiben, nichts mit seiner Struktur anfangen können, keinen Bezug zu den Figuren aufbauen oder sich an der optischen Eigenwilligkeit stören. Andere werden dem Regisseur danken. Denn es gibt nur wenige Filme, die ihr Publikum so sehr respektieren und ihm trotz ihrer Kompromisslosigkeit so viel Freiheit einräumen wie POST TENEBRAS LUX.
Ob die ARTE-Koproduktion es in die deutschen Kinos schaffen wird, ist leider noch unklar. Fest steht, dass dieser Film unbedingt auf die große Leinwand gehört.