Der Goldene und die Silbernen Bären der Berlinale 2011, sowie die anderen Preise des Festivals wurden gestern vergeben. Zum Ende des Festivals werden wir aber nochmal kurz selbstreflexiv.
Am 17.02. fand im Hebbel am Ufer 2 die Veranstaltung „Covering Cinema: Critics Meet Filmmakers“ im Rahmen des Berlinale Talent Campus statt. Zu Gast waren die israelische Regisseurin Alma Har’el (BOMBAY BEACH in der Sektion „Panorama Dokumente“), der polnische Regisseur Przemyslaw Wojcieszek (MADE IN POLAND in der Sektion „Forum“), der „Variety“-Filmkritiker Jay Weissberg und der freischaffende Filmkritiker Gerhard Midding.
In der einleitenden Fragerunde führte Regisseur Przemyslaw Wojcieszek kurz in seinen Film ein. Wie Wojcieszek gleich zu Beginn anmerkte, war das von ihm geschriebene Drehbuch schon vor 10 Jahren fertig, fand zu Beginn aber keinen Produzenten der den Stoff verfilmen wollte. Der Inhalt, der sich über die Jahre immer wieder verändert hat, erzählt nach eigenen Angaben auf experimentelle Weise wie die Menschen in Polen leben. Es ist daher ein Film über die Art und Weise wie man die Welt sieht, quasi ein politisches Statement von Wojcieszek. Der Film richtet sich damit auch an ein junges Publikum und soll bewusst polarisieren.
Inspiration waren für ihn nicht nur die Filme von Michael Moore, sondern auch die von Mike Leigh (darunter z.B. NAKED von 1993) und des New British Cinema der 1980er und 1990er.
Zweiter Gast in der Runde war die Regisseurin Alma Har’el, die mit ihrem ersten Film BOMBAY BEACH in der diesjährigen Sektion „Panorama Dokumente“ vertreten ist. Die in Los Angeles lebende Regisseurin beleuchtet in ihrem Dokudrama das Leben der Kinder einer amerikanischen Familie, die in armen Verhältnissen lebt und die trotz aller Probleme ihre Lebensfreude nicht verloren haben. Wie Har’el selbst sagt, war dieser Film ein Weg um auch ihre eigene Kindheit neu zu erleben, da auch diese durch Konflikte und Angst geprägt war. Die Protagonisten ihres Films hatte sie während des Drehs eines Musikvideos kennengelernt, den sie einige Zeit vorher auch dort im Süden Kaliforniens gemacht hatte.
Als Dritter Gast war der Filmkritiker der „Variety“ Jay Weissberg anwesend. Gleich zu Beginn merkte er an, dass die Zeitungen „Variety“, „Screen“ und „Hollywood Reporter“ die englischsprachige Filmkritiklandschaft dominieren. Somit arbeiten diese Zeitungen mit ihren Kritiken auch für die Hollywood Industrie und können mittlerweile vorhersagen, wie und wo ein Film laufen wird. Kritik ist damit ein Teil des Filmbusiness.
Laut Weissberg kann es gerade in Zeiten von Blogs und Internet keine komplett objektiven Kritiken geben. Im Fall eines Festivals ist die Situation noch einmal anders. Wie er an seiner eigenen Arbeit beschreibt, haben die Kritiker bei solchen großen und wichtigen Festivals oft nur 2 Stunden oder weniger um nach den jeweiligen Filmen eine Kritik zu schreiben. Ein schwierige Aufgabe, gerade wenn man fünf oder sechs Filme am Tag sieht und man in Betracht zieht, dass besagte Zeitungen (gerade „Variety“ und „Screen“) während der Berlinale eine tägliche Ausgabe veröffentlichen. Auf diese Weise wird man den Filmen, so Weissberg weiter, oft nicht gerecht und kann ihnen auch nicht die notwendige Zeit zuwenden. Zumal viele der Filme oft bei näherer und intensiverer Betrachtung ein anderes Bild zeigen.
Mit dem Filmkritiker Gerhard Midding bekam die Runde eine weitere und unterschiedliche Sichtweise. Im Gegensatz zum festangestellten Kritiker einer Filmzeitschrift, ist Midding nicht so sehr an die Filmindustrie und dessen Struktur gebunden. Wobei selbst Weissberg hier eine Ausnahmerolle hat, denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen die den amerikanischen Filmmarkt bearbeiten und somit viel mehr in das Filmbusiness eingebunden sind, beleuchtet der in Rom lebenden Kritiker den italienischen und somit auch den europäischen Film.
Im Prinzip ist es bzw. sollte es im Sinne der Kritiker sein, dass ein Film von möglichst vielen Zuschauern gesehen wird. Gerade in Zeiten in denen die Besucherzahlen in vielen europäischen Ländern während der letzten Jahre rückläufig sind (Frankreich ist mit steigenden Zahlen hier zum Beispiel eine Ausnahme), bieten Filmfestivals die Möglichkeit Filme zu sehen, die sonst nie ins Kino kommen werden. Es ist damit die Aufgabe des Kritikers, so Midding, den Film auch über das Festival hinaus am Leben zu halten. Sie haben aber auch die Möglichkeit einen Film quasi wieder aus der Versenkung zu holen. Gerhard Midding brachte hier das Beispiel eines Filmes, der bei seiner ersten Vorführung schlechte Kritiken bekommen hatte und somit von der Bildfläche verschwunden war. Erst Jahre später, als ein Kritiker wieder über diesen Film geschrieben hatte, bekam er eine zweite Chance.
Kritiken sollten daher – und da waren sich alle in der Runde einig – nicht nur dafür da sein, um den Zuschauer in seiner Filmauswahl zu lenken, sondern sollten immer in einem konstruktiven Dialog mit dem Film und seinen Machern stehen. Midding brachte hier das Beispiel des Films L’ENFANT DE L’HIVER des französischen Regisseurs, Drehbuchautors und „Cahiers du Cinéma“-Kritikers Olivier Assayas, der 1989 im Forum der Berlinale lief. Die Kritiker bemängelten zu der Zeit die übermäßige Nutzung von Musik im Film. Basierend darauf machte Assayas seinen nächsten Film ganz ohne Musik.
Weissberg merkte hier auch an, dass die Festivalversionen der Filme sich oft von den Kinoversionen unterscheiden, da viele der Regisseure basierend auf den Kritiken dann noch Änderungen im Schnitt vornehmen.
Auf die Frage wie man denn eine gute Kritik schreibt, gab es unterschiedliche Antworten. Das wichtigste sei aber Übung, nicht nur beim Lesen und Entziffern der im dunklen geschriebenen Notizen (der Autor dieses Artikels bildet da keine Ausnahme und hatte auch mit seinen Notizen zu kämpfen), sondern auch beim Schreiben selbst.
Beim verfassen einer Kritik sollte man sich, so Weissberg, immer nach der zentralen Frage richten: „Was will der Regisseur darstellen?“. Hilfreich sind aber auch Fragen wie z.B. „Wenn es ein Dokumentarfilm ist, funktioniert er als solcher? Falls es Fiktion ist, funktioniert es als Fiktion?“, „Ist der Film in der Lage über sich oder die Umstände in der Welt zu sprechen?“.
Es vermag somit keine einheitliche Richtlinien zum Verfassen von Kritiken geben, jedoch gibt es Kritiker, die in ihrer Kritik sagen wie der Film hätte sein sollen und andere, die dem Film folgen und sich auf ihn einlassen.
In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum kam noch heraus, dass die Redakteure von Variety in der Vergangenheit vielmehr Freiheiten bei der Auswahl der Filme hatten, heute jedoch oft über das schreiben müssen, was die Zeitung ihnen vorgibt und somit mehr von der Filmindustrie beeinflusst werden.