Wer kennt das nicht: es gibt dieses eine Lied, diese eine Textzeile, die wie keine andere zum eigenen Leben passt. Die wie keine andere ein bestimmtes Ereignis in der eigenen Vergangenheit beschreibt. Wer kennt ihn nicht, den Soundtrack zum eigenen Leben.
Das Setting in dem sich der als bester Dokumentarfilm beim Festival do Rio 2011 ausgezeichnete Beitrag von Eduardo Coutinho AS CANÇÕES bewegt, ist denkbar einfach: ein schwarzer Stuhl in einem großen Raum, als Hintergrund dient nur ein schwarzer Vorhang. Eine klassische Interviewsituation, in der die befragten Personen allein im Bild sind. Die Kameraeinstellung geht nur selten über eine Halbtotale hinaus und der Interviewpartner ist nur als Stimme aus dem OFF zu hören. Die Dramaturgie, den Plot übernehmen die Menschen, die auf diesem Stuhl Platz nehmen.
Zweifelsohne lebt ein großer Teil von Coutinhos Dokumentarfilm von den mitunter skurrilen, aber interessanten Personen, die vor der Kamera sitzen. Doch es wäre falsch, den Film darauf zu reduzieren. So nehmen Personen unterschiedlichster Couleur auf dem Stuhl Platz, vom einfachen Bauern bis hin zum Geschäftsmann und es ist immer wieder interessant zu beobachten, wie stark die Musik im Leben eines Menschen verankert ist. Im vorliegenden Fall von Brasilien, scheint die Musik und die damit verbundenen Leidenschaften aller Art, sogar eine untrennbare Komponente einer ganzen Gesellschaft zu sein.
Genauso unterschiedlich wie die Menschen, sind auch die Geschichten die sie erzählen: da ist z.B. die von Gilmar, der ein Lied mit der Trennung von der Kirche verbindet, nachdem seine Frau verstorben war und zugleich aber auch mit den schönen Erinnerungen und Gedanken an seine lebende Mutter. Sonia hingegen erinnert ein Lied an die einzige und mittlerweile verstorbene wahre Liebe und an die unvergesslichen Stunden mit der durch ihn dazu gewonnenen Familie. Den Liedtext, den ihr damals ihre große Liebe geschrieben hat, bewahrt sie auf wie eine Reliquie.
Doch die Lieder verbinden die Menschen nicht nur mit traurigen Momenten. So spiegelt das Lied, das der ehemalige Kommandant der brasilianischen Handelsmarine José Barbosa singt, sein mit einer Portion Seefahrerromantik geschmücktes Leben wider, an das er sich gerne erinnert. Die Worte des Liedes der deutschstämmigen Isabell, sprechen über die Abneigung für ihren ehemaligen Lebenspartner, der sie verlassen hat. Zugleich lässt es aber vermuten, dass es gerade die Musik war, die der Capoeiratänzerin Freiheit und neue Stärke gegeben hat.
Es sind Lieder von Schmerz und Leid, von verlorenen und gefundenen Lieben, von Freude und schönen Momenten.
So entspannt die Gespräche auch zu Beginn verlaufen, so stark überwältigen die Emotionen teilweise die Menschen, während diese ihre Geschichte erzählen. Es ist wohl wahr, dass die Musik das auszusagen vermag, was Worte nicht können. Der eher nüchterne schwarze Vorhang im Hintergrund, wird somit zu einer Art Bühne, eine Art Leinwand, auf dem sich ganze Lebensgeschichten abspielen. Mehr sogar: Coutinho schafft es in seiner Anordnung eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, in der die Menschen offen und direkt über ihre tiefsten Gefühle sprechen. Die Reduktion der Umgebung, fokussiert, stellenweisen auch durch einen mit der Kamera geschaffenen leichten Vertigo-Effekt verstärkt, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Person die spricht und es ist auch sie alleine, die bestimmt was in der Geschichte passiert. Wie in einem Theater, treten die Protagonisten dieser Geschichten hinter dem Vorhang hervor. Manchmal weinend, manchmal sich verabschiedend, verschwinden sie dann wieder hinter diesem und tauchen erneut unter, in der Anonymität der Metropole von Rio de Janeiro, die sich hinter dem schwarzen Vorhang nur vermuten lässt. Ohne die Wichtigkeit für die jeweiligen Menschen mindern zu wollen, geraten die Lieder somit in den Hintergrund. Sie werden zu einer Art Vorwand und bieten die Möglichkeit, um kurze Einblicke in interessante Lebensgeschichten zu haben, die sonst verborgen bleiben. Es ist wohl wahr, die interessantesten Geschichten schreibt das Leben.