Fein gepfadete Menschenkinder

Eine Hommage an Peter Nestler auf der 55. DOK-Leipzig

Das nicht ganz Geheure hat sich irgendwo dazwischen eingenistet und will hervorgelockt werden. So jedenfalls scheint in den frühen Filmen von Peter Nestler die Sympathie ganz beim Menschen und zugleich doch wieder entschieden von ihnen wegzugehen. Der Mensch wird zum Kuriosum seiner eigenen Lebenswelt, wo nicht selten die alltäglichen Handlungen notwendig, aber auch fremd erscheinen.

DOK-Leipzig widmet in diesem Jahr Peter Nestler eine Hommage. Die von Kay Hoffmann kuratierte Reihe, nimmt sich vor allem den Arbeiten Nestlers an, die vom deutschen Fernsehen produziert wurden. Dies umfasst seine frühesten Arbeiten in den 1960er Jahren, die in den 1970er in Schweden produzierten Filme, sowie einige Arbeiten, die in den 1990er und 2000er Jahren wieder in Zusammenarbeit mit dem deutschen Fernsehen stattfanden. Im Publikumsgespräch wies Kay Hoffmann darauf hin, dass die Auseinandersetzungen mit dem damaligen Programmchef des Südwestrundfunks über den Film EIN ARBEITERCLUB IN SHEFFIELD, sowie der Vorwurf in Oberhausen mit seinem Film VON GRIECHENLAND ein kommunistisches Machwert produziert zu haben der Auslöser für Nestlers Emigration nach Schweden waren. Dass die frühen Filme meist ohne Kommentar blieben und lediglich einen sparsam eingesetzten Erzähler verwendeten, hebt Nestler heute auch vom damals modischen direct cinéma à la Stuttgarter Schule ab. Nachdem er in Deutschland keine Arbeitsmöglichkeit mehr sah, emigrierte Nestler 1965 nach Schweden. Kay Hoffmann hat auch in Zusammenarbeit mit Peter Nestler eine DVD-Edition mit 20 Filmen Nestlers zusammengestellt, die bei absolutmedien erschienen ist.

Der erste Programmblock umfasst vier frühe Filme Nestlers. AM SIEL (BRD, 1962) erzählt aus der Perspektive eines Siels – ein Verbindungskanal zwischen Nordsee und Hafen – den Verfall eines Nordseedorfes und deren Bewohner. Obgleich das Siel im gleichmütigen Ton seine Dienste anbietet, blitzt im Alltag der Post einwerfenden Menschen reichlich Sinnleere auf. Und das gerade auch in den Momenten, in denen moderne Orte des Sinns anklingen: das Auto und die Schule. Sogleich kommt etwas hinzu, was den eitlen Glanz nimmt: sei es ein Dreckfleck am Auto, das den Mann vom Lande in der Stadt vor Scham erröten ließe oder Bildung verheißende Goethe-Gedichte. Die schneidend-rauchige Stimme des Siels, die erst nach ein paar stummen Sekunden einsetzt, erhebt das Siel in eine eigene Sphäre aus Wind und Wetter. Zu den vielen fotografisch langen Einstellungen vermoderter Fassaden, charakteristischen Fensterläden und der schroffen, dörflichen Einfachheit mischt sich nur selten einmal eine Kamerafahrt oder ein Schwenk hinzu, in die sich das gemächliche Tempo des Siels visuell übersetzt sieht. Vor den Fenstern und Türen ist Schluss: kein Blick hinter Gardinen, Türen, Fenster deutscher Heimlichkeit. Das Siel ist in der Textur des abplatzenden Putzes, im Matsch der Straße, in den geteerten Schiffen und in den Poren der Fischer zuhause.

 

Wie der Titel von AUFSÄTZE (BRD, 1963) bereits besagt, ist der Film als Serie von Kinderaufsätzen strukturiert. Nestler bat die Kinder einen Aufsatz über ihren Schulalltag zu schreiben und filmte sie an vier Tagen im verschneiten Berner Oberland. Die mehrstimmigen Perspektiven folgen grob einem Tagesablauf. Der charakteristisch kindliche Satzbau und die vielen Wiederholungen, die in einer detailreichen Beschreibung der Erscheinung der Lehrerin unter anderem auch zeigt, dass sich Schule nicht allein im Lesen, Rechnen, Schreiben erschöpft („Unsere Lehrerin ist eine schöne.“). Im Gesicht und den Händen des Jungen, der den Ofen anheizt, ist eine selbstvergessene Konzentration sichtbar, die eine Bindung an die Wärme im Klassenzimmer zeigt. Und da das Rückrat dieses Filmchen nun einmal diese Kindergeschichten bilden, kommt auch das Vergessen auf, das einst ein Junge das Amt des morgendlichen Heizers in der Schule gehabt haben muss. Eine durch Zentralheizung verdrängte Erinnerung.

In MÜHLHEIM (RUHR) (BRD, 1964) wendet sich Nestler nun den Arbeitern zu. Ein Interesse, das er noch mehrfach in seinen Filmen aufgreifen wird. Der Film ist eine Art Rhythmusübung im Schnitt und eine Probe auf das synchrone Verhältnis von Bild und Ton, ohne den O-Ton zu dominant werden zu lassen. Ein Metronom schlägt im Takt der Schritte von Spaziergängern und verleiht ihnen zugleich einen maschinellen Charakter vorgegebener Pfade, denen sie willenlos oder verzweifelt folgen. „Arbeiter-verlassen-die-Fabrik“-Einstellungen und immer wieder Kinder, die auf der Straße Häuserwinkel als Spielquartier entdecken und in den Hochofen-Dämpfen der Väter spielen. Hier ist Nestlers Hang zur konfrontativen Montage bereits weit entwickelt: Neubauten mit schicken Autos sind mit den engen und dreckigen Arbeitersiedlungen gegengeschnitten. Die eingemäntelten Kneipengesichter über Bier und Skat wecken Altnazimuff.

Was MÜHLHEIM (RUHR) für Deutschland, ist EIN ARBEITERCLUB IN SHEFFIELD (BRD, 1965) für England. In diesem Programmpunkt ist es der deutlich längste und auch bis dahin komplexeste Film Nestlers. Im englischen Sheffield haben sich Stahlarbeiter zu einer Selbsthilfeorganisation zusammengeschlossen, dem „Dial House Social Club“. Der Club ist zum zentralen Treffpunkt der Arbeiter und ihrer Familien geworden. Im Trink-, Rauch-, Lach- und Tanzclub pausieren die Bingohände von der Arbeit am Holzbohrer oder kommt die Stimme eines schwarzen Sängers erst so richtig in Fahrt. Es ist hier vor allem der Einsatz der Fotografie, den Nestler ganz unterschiedlich akzentuiert. Einmal sind es die gestellten Fotos der Sängerinnen und Sänger nach der Vorstellung ein anderes Mal sind es Schnappschüsse auf der Straße von Arbeiter- und Kindergesichtern, deren Blicke Nestler noch einmal durch einen Zoom pointiert. Es ist eine Suche nach Zuständen, in die sich Melancholie, Erschöpfung, Selbstvergessenheit und Überanstrengung hineingefräst haben. Immer aber auch ist es Musik, die zentriert oder selbst die Musiker von sich wegführt. Wenn ein Sängerpärchen Bob Dylans „Blowing in the wind“ anstimmt, so erscheint der Blick der Sängerin ihrer Stimme wegzueilen – ganz wie der Song die Ungewissheit zukünftiger Ereignisse in die Gegenwart holt und als Abwesendes in einen melancholischen Schmerz wandelt. Ganz wie der Club das zerstreut, was die Fotografien wieder festzuhalten versuchen. Im Epizentrum der Zerstreuung zwischen Bier und Bühne sind die Tänze hölzern und die Zahlen des Sekretärs, verantwortlich für die Buchhaltung, ein nüchterner Triumph gegen das Stahlbollwerk. Freizeit in Zahlen.

Der Humor in den Nestler-Filmen scheint etwas trocken durch und gibt sich seinem Blick hin: der Präsident des Clubs am einarmigen Banditen. Herrlich. Die Bilder von Mülheim und Sheffield geraten im Nachhinein ineinander, was auch daran liegt, dass Nestler es gar nicht auf eine Ortsspezifität anlegt. Es geht um etwas, das anhaltender ist, als das nur Lokale. Es sind Ausflüge in eine Perspektive, die die Zeitlichkeit des Menschen übersteigt. Was das Siel in animistischer Überhöhung anklingen lässt, setzt sich im Greifen, Bohren, Anstreichen, Halten und sonstigen handlungsorientierten Verrichtungen der Menschen fort. Das Humane blitzt nicht am Einzelnen auf. In den Handlungen, da sitzt es.

Filmtitel: Hommage an Peter Nestler - Programm 1
Regie: Peter Nestler