In dem etwa 30-minütigen Kurzfilm CHIRALIA von Santiago Gil geht es um ein traumatisches Ereignis, das im Laufe des Films von Person zu Person weiter getragen wird, bis schließlich der Anfang des Films an seinem Ende wieder eingeholt zu werden scheint. Chiralia ist ein visuell-narratives Experiment, ein Versuchsaufbau, bei dem es um Rückkopplung, Schleifenbildung und die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht.
Der Titel des Films erinnert an das aus der Chemie bekannte Phänomen der Chiralität. Der Begriff ist ein aus dem Griechischen abgeleitetes Kunstwort, das, wörtlich übersetzt, so etwas wie „Händigkeit“ bedeutet. In der Chemie wird damit die Eigentümlichkeit bestimmter räumlicher Molekülanordnungen bezeichnet, bei denen so genannte Symmetrieoperationen, wie beispielsweise die Spiegelung oder auch die Drehung einer Molekülebene, nicht zu einer direkten Selbstabbildung des Moleküls führen. Allgemein bezeichnet man ein Objekt dann als chiral, wenn es keine Drehspiegelachse besitzt, es sich also nicht mit seinem Spiegelbild zur Deckung bringen lässt. Andere Symmetrieelemente können aber durchaus vorhanden sein, ein chirales Objekt ist also nicht zwangsläufig asymmetrisch (vgl. Atkins 2010: 187 und Huheey 2003: 57ff). Im Alltag begegnet uns dieses Phänomen beispielsweise bei Betrachtung der rechten und der linken Hand oder auch bei rechts- und linksgewundenen Schneckenhäusern, die sich zwar spiegelbildlich zueinander verhalten, aber nicht deckungsgleich sind.
Versuchsaufbau und Rückkopplung
Als Rückkopplung oder Feedback bezeichnet man einen Mechanismus, der vor allem in technischen, aber auch in biologischen oder sozialen Systemen auftritt. Vor allem in signal- und informationsbasierten und -verarbeitenden Systemen, wird damit ein Phänomen beschrieben, bei dem innerhalb eines Systems ein Teil der Ausgangsgröße des Signals oder der Information, direkt oder in modifizierter Form auf den Eingang des Systems rückwirkt. Je nachdem, ob die rückgeführte Ausgangsstärke des Signals stärker oder schwächer als das Eingangssignal ist, wird der Gesamtprozess des Systems verstärkt oder abgeschwächt, in jedem Fall wird das System jedoch verändert.
Chiralia etabliert ein solches System, innerhalb dessen ein Ereignis – das Verschwinden eines kleinen Jungen (Eingangssignal x) -, drei Raum- und Zeitebenen durchläuft, bis am Ende der Anfang des Films in veränderter Form wiederholt zu werden scheint: Der Junge verschwindet nicht (Ausgangssignal x*).
1) Eingangssignal x: Gegenwart
Der Film beginnt mit einem Jungen in roter Badehose, der an einem Sommernachmittag mit seinem Vater im See schwimmen geht und verschwindet. Die Bewohner des nahen Campingplatzes helfen dem verzweifelten Vater bei der Suche des Jungen. Ein etwas abseits zeltendes junges Paar bereitet sein Abendbrot. Der Zwischenfall lässt sie nicht los und eine heftige Diskussion entbrennt zwischen den beiden, woraufhin der junge Mann sich im Morgengrauen auf den Weg zum See begibt. Im Wald trifft er eine alte Frau.
2) Reaktivierung des Signals xt: Vergangenheit, Erinnerungserzählung
Der junge Mann erzählt der alten Frau eine Geschichte aus seiner eigenen Kindheit. Er sei selbst oft mit seinem Vater an diesem See gewesen. Eines Tages haben sein Vater und er sich beim Schwimmen aus den Augen verloren – ein für beide damals von Verlust-Ängsten geprägter Moment. Sein Vater jedoch erinnere diesen Zwischenfall ganz anders als er, für ihn habe er hinterher quasi nie statt gefunden.
Als die alte Frau schließlich ihren Weg zum See fortführt und schwimmen geht, winkt sie einem am Waldrand stehenden Jungen in roter Badehose zu.
3. Ausgangssignal x*: Gegenwärtige Vergangenheit
Im nächsten Moment springt der Junge mit der roten Badehose zu seinem Vater ins Wasser und gemeinsam schwimmen sie zur Mitte des Sees.
Der Anfang des Films scheint sich beinahe genau zu wiederholen, aber eben nur beinahe: In diesem Fall ist der Junge nicht verschwunden. Die Erinnerungserzählung xt, die den Anfang des Films wiederholt und somit x reaktiviert, hat diesen am Ende rückwirkend modifiziert zu x*.
Der Film beschreibt eine Möbiusschleife mit filmischen Mitteln. Sowohl auf erzählerischer als auch auf filmästhetischer Ebene vollführt er eine zyklische Bewegung, welche sich schließlich als Spiegelung offenbart, wobei die gespiegelten Elemente symmetrisch, aber nicht deckungsgleich sind: Sie sind – um mit dem oben eingeführten Begriff zu sprechen – chiral. Anfangs- und Schlussszene des Films scheinen sich zu wiederholen und doch hat es eine Veränderung gegeben: x wurde über xt zu x*.
Kreisläufe
In der Natur, aber auch im Allgemeinen, beschreiben Kreisläufe innerhalb eines bestimmten Zeitraumes periodisch – zyklisch – wiederkehrende, gleichartige oder vergleichbar ähnliche Ereignisse. Das Ereignis um das es hier geht – Vater und Sohn gehen an einem sommerlichen Nachmittag in einem Waldsee baden – wird innerhalb des Films dreimal wiederholt (x, xt, x*). Die Szenen am Anfang und am Ende des Films zeigen beinahe dasselbe und unterscheiden sich doch in dem einen wichtigen Punkt, dass der Junge zu Beginn nach dem Tauchen im See verschwunden ist (x), am Ende jedoch „wieder auftaucht“ (x*). Die Erzählung des jungen Mannes (xt), die eine Erinnerungserzählung ist, verbindet diese beiden Enden miteinander und differenziert diese gleichzeitig: „Die Erinnerungen sind trügerisch und sind doch das Schönste, was uns bleibt“, sagt die alte Frau zu ihm.
Vergangenheit und Gegenwart scheinen sich hier zu durchmischen, wobei die Erzählung des jungen Mannes, deren Kreuzungspunkt bildet. Was als gegenwärtiges Ereignis am Anfang des Films gezeigt wird, das Verschwinden des Jungen beim Baden im See, erscheint in der Erzählung des jungen Mannes als Vergangenheit, am Ende des Films wird es dann zum gegenwärtig Vergangenen. Die Zeitebenen scheinen zu oszillieren und quasi umeinander zu kreisen: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft existieren gleichzeitig – der Film eröffnet einen atemporalen Raum.
Die Kamera übernimmt und verstärkt dieses Ineinanderübergehen der Zeitebenen. In zyklischen Bewegungen kreist sie um die Figuren herum. Lange Einstellungen und sehr wenige Schnitte sollen das Fließen der Dinge nicht unterbrechen. Immer wieder fokussiert die Kamera eine Person, kommt auf sie zu oder begleitet sie ein Stück, um dann immer wieder in den Wald hin „abzuschweifen“, bis sie schließlich nach einer 180° Drehung wieder auf die Figur zurück kommt.
In klassisch filmästhetischen Auffassungen dienen derartige Kameraschwenks oder kreisförmige Kamerafahrten eigentlich einer Öffnung des Blicks, sollen einen Überblick verschaffen oder Zusammenhänge verdeutlichen. Die Umgebung, in der die Figuren sich hier bewegen – der Wald – scheint den Blick jedoch eher zu verschließen und die kreisende Kamerabewegung erscheint mehr wie ein geistiges Abschweifen, ein kurzer Moment der Unkonzentriertheit, der schließlich zu einer ungenauen Erinnerung führt.
Die Kamera erschließt sich in ihrem zyklischen Gleiten einen emotionalen (Lebens-)Raum, der jedoch in direktem Zusammenhang zum Außenraum der Natur, dem Wald und dem See steht. Makro- und Mikrokosmos werden sichtbar, sie konstruiert eine Atmosphäre temporaler Oszillation, in der das Kind, neben dem jungen Mann und dem Vater, das es eines Tages sein wird, gleichzeitig existieren kann.
Die beiden Erzählstränge des Jungen, der mit seinem Vater baden geht und dabei verschwindet oder eben nicht und deren Knotenpunkt, die Erinnerungsgeschichte des jungen Mannes, bilden zwei gegenläufige sich gegenseitig spiegelnde Schleifen, wie ein links- und ein rechtsgewundenes Schneckenhaus.
Spiegelungen
Die Anfangsszene des Films kommt also am am Ende auf sich selbst zurück, wird irgendwie eingeholt und quasi gespiegelt. Das Eintauchen des Jungen in den See endet beim ersten Mal mit dessen Verschwinden (x), am Ende jedoch, taucht der Junge wieder auf (x*). Innerhalb dieser beiden Szenen bildet der See die Spiegelachse oder den Wendepunkt, an dem sich entscheidet, was passieren wird: x wird zu x*.
Beide Male steht der Junge mit der roten Badehose am Wald- und Uferrand, sein Vater ruft: „Markus! Markus! Wo steckst du? Komm rein, es ist gar nicht kalt!“ Bei x läuft der Junge auf den Steg zu und lässt sich langsam ins Wasser gleiten, der Vater fordert ihn auf: „Komm, wir schwimmen in die Mitte!“ Der Junge macht ein paar Schwimmzüge aus dem Bild hinaus und taucht. Die Kamera nimmt seinen schattenhaften Körper inmitten der von der Sonne dumpf beschienenen schwarzen Fremdpartikel auf. Das nächste Bild ist eine Totale auf den See: der Junge ist weg.
Bei x* sehen wir den Jungen erstmals im Morgengrauen am Uferrand stehen, er winkt der alten Frau zu. Dann sieht man ihn von hinten, die Nachmittagssonne scheint spärlich durch das Laub und erhellt sein Haar. Ab hier erscheint x beinahe perfekt kopiert: Sein Vater ruft ihn und er läuft zum Steg, die Kamera bleibt an dem leicht versteckten Platz am Ufer stehen, der Junge springt ins Wasser und taucht ab, man sieht ihn schemenhaft im dumpfen grünlich-braunen Seewasser. Totale auf den See und der Junge taucht wieder auf, der Vater sagt: „Komm, wir schwimmen in die Mitte!“
Zwischen diesen beiden Momenten, bildet die Erinnerungserzählung des jungen Mannes (xt) den Knotenpunkt der Schleife, die der gesamte Film darstellt. Szene x und x* scheinen sich zunächst spiegelbildlich zueinander zu verhalten und doch hat eine signifikante Veränderung stattgefunden, die durch die Geschichte des jungen Mannes (xt) überhaupt erst ermöglicht wird. xt wirkt dementsprechend unmittelbar zurück auf x, indem das Ereignis, das zunächst gegenwärtig erschien, in die Vergangenheit positioniert und aktualisiert wird. xt ermöglicht aber auch erst x*, eine Art gegenwärtiger Vergangenheit, die letztendlich auf x zurückwirkt. xt ist quasi Wendepunkt eines Systems, das sich in unendlichen Feedbackschleifen um sich selbst dreht: x und x* oszillieren beständig umeinander, x ist gleichzeitig auch immer x* und umgekehrt. Sie sind quasi Vorraussetzungen und Bedingungen der Schleife, die ganz allgemein mit Possibilität bezeichnet werden kann, als den Moment eines „Es könnte auch anders sein.“
X zu X*
Ausgehend von einem bestimmten Moment, entfaltet Chiralia eine Geschichte, die zu ihrem Ende hin wieder auf ihren Ursprung zurück wirkt, eine sich beständig um sich selbst drehende Rückkopplungsschleife nach dem Schema: x wird über xt zu x* – wird zu x…?
Als narratologisch-filmästhetisches Konzept dient dem Film das Chiralitätsprinzip, das mithilfe einer sorgfältig durchdachten Kamera die Frage nach der Erinnerung, den Möglichkeiten und Eventualitäten des Lebens stellt und zeigt, das, was auch immer gerade passiert auch ganz anders passieren könnte. Womöglich beinhaltet jeder Moment auch seinen Gegenmoment, der innerhalb eines atemporalen Raums, dort wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beständig oszillieren und eigentlich gleich sind, sich zu jeder Zeit gleichzeitig realisiert. Der Film beschreibt somit eine „gebrochene“ Schleife, eine Möbiusschleife, deren Enden verquer zusammen finden. Man könnte meinen, die zahlreichen 180° Drehungen der Kamera vervollständigen sich im Ganzen des Films zu einem mathematischen Unendlichkeitszeichen „∞“ und beschreiben den ewigen Kreislauf aus Gegenwart, Erinnerung und Zeit, den Kreislauf des Lebens.
Der Film feierte anlässlich der Berlinale 2013 in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ seine internationale Premiere und erhielt die lobende Erwähnung der Jury des deutsch-französischen Jugendwerks (DFJW) „Dialogue en perspective“.