TIGER GIRL von Jakob Lass ist laut, schnell, rhythmisch und mitreißend – ein bisschen wie der Popsong auf dem Geburtstag letztes Wochenende in Berlin-Mitte: Natürlich konnten alle den Text, natürlich haben alle mitgegrölt – ironisch, is‘ ja klar: „Alle haben ’nen Job — ich hab Langeweile. Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern. So ist das hier im Block, tagein, tagaus. Halt mir zwei Finger an den Kopf und mach: Peng! Peng! Peng! Peng!“ Im Musikvideo zu Marterias KIDS mischen zwei Schulmädchen mit Hockey-Schlägern den grauen Büroalltag auf: Hoch die Hände, Wochenende.
Montag dann wieder zurück ins Büro, ein wenig verkatert – war doch bisschen zuviel Krawall und Remmidemmi. Wir sind ja auch keine Zwanzig mehr und denken an unsere Rentenversicherung. – Nun, TIGER GIRL setzt genau dort an, wo der Refrain in dem Song aufhört: „Peng! Peng! Peng! Peng!“
Nachdem Maggie durch die Polizistenprüfung fliegt, beginnt sie eine Ausbildung bei einem privaten Sicherheitsdienst. Sie ist die einzige Frau inmitten einer bunten Truppe aus aufgepumpten Jungs mit Migrationshintergrund – Typ Türsteher – und ein paar verpeilten, aber sympathischen Verlierertypen, die wahrscheinlich vom Arbeitsamt geschickt wurden.
Während eines Abends mit den neuen Kollegen trifft sie auf Tiger: Kurze immer leicht ungewaschene Haare, Bomberjacke, lockere Berliner Schnauze, arm aber sexy – im Großen und Ganzen also das komplette Gegenteil von ihr. Es ist nicht das erste Mal, dass sich diese zwei Frauen über den Weg laufen, die verschiedener nicht sein können. Maggy will unbedingt dazu gehören, ist eher ziemlich kleinlaut und fühlt sich nur stark in ihrer Uniform. Tiger gibt nicht viel auf Regeln und Konventionen, was nicht passt, wird passend gemacht – auch wenn das heißt, dass man mal eben einen Seitenspiegel abtreten muss, damit noch Platz in der Parklücke ist. Sie nimmt sich einfach, worauf sie gerade Lust hat, was andere von ihr denken, ist ihr ziemlich egal. Gleich zweimal hilft sie Maggie aus der Patsche: Hält ihr eine ein wenig zu aufdringliche Barbekanntschaft vom Hals und vertreibt gleich im Anschluss noch sehr effektiv eine Gruppe auf Krawall gebürsteter Schläger an der U-Bahnhaltestelle.
Da Maggie also offensichtlich eine Lektion in Sachen Schlagfertigkeit gut gebrauchen kann, nimmt Tiger sie unter ihre Fittiche, nennt sie ‚Vanilla the Killer‘ und bringt ihr bei: „Höflichkeit ist eine Art Gewalt. Es ist eine Gewalt gegen dich.“
Was dann folgt ist ein rasanter anarchischer Trip durch die Berliner Nächte und U-Bahn-Schächte, bei dem eigentlich nichts und niemand vor dem Duo und ihrem Baseballschläger sicher ist. Doch Tiger muss lernen: Wer Wind sät, wird Sturm ernten… Denn Vanilla gefällt sich immer besser in der Rolle, der harten Draufgängerin und was anfangs noch mit eher harmloseren Fällen von Beamtenbeleidigung, Sachbeschädigung und kleineren Diebstählen begann, steigert sich zu einem regelrechten Gewaltexzess mit offenem Ausgang, bei dem die Straßen Berlins zum Fight Club werden.
Nach FRONTALWATTE und seinem großen Überraschungserfolg LOVE STEAKS ist TIGER GIRL der dritte Spielfilm von Jakob Lass. Während der Arbeit an LOVE STEAKS entwickelte der Regisseur sein Arbeitsprinzip „Fogma“, eine Art programmatische Handlungsanleitung zum improvisierten Spielen und gemeinschaftlichen Arbeiten am Set, bei dem es darum geht, die kreativen Prozesse also Drehbuch, Produktion, Kamera und Regie in der Gemeinschaft zu konzipieren und improvisatorisch umzusetzen.
Wie auch bei LOVE STEAKS, einer Liebesgeschichte im Ostseehotel zwischen dem schüchternen Masseur Clemens, gespielt von Franz Rogowski (VIKTORIA), und und der extrovertierten Küchengehilfin Lana, gespielt von Lara Cooper (WIR SIND DIE FLUT, DIESES SOMMERGEFÜHL), die beide auch hier in einer Nebenrolle zu sehen sind, arbeitet sich Lass an den charakterlichen Extremen seiner Hauptfiguren ab: Wie ein Chemiker im Labor lässt er hier Maria Dragus als ‚Vanilla the Killer‘ und Ella Rumpf als ‚Tiger‘, diese beiden substanziell gegensätzlichen Charaktere aufeinanderprallen und beobachtet, ob und wie sich diese aufeinander auswirken. – Was bei LOVE STEAKS in einer charmanten Liebesgeschichte zwischen zwei großen Kindern mit ein bisschen Haue endet, wird bei TIGER GIRL eine eher explosive Mischung, deren Verlauf vor allem von der großartigen Maria Dragus (die hatte uns ja bereits 2009 als stille und manipulative Klara in Michael Hanekes DAS WEISSE BAND das Fürchten gelehrt…) als Maggie aka ‚Vanilla the Killer‘, als wahnwitzige Rebellin Without a Cause, getragen wird.
Bestach LOVE STEAKS noch durch seine beinahe dokumentarische Authentizität und die Natürlichkeit seiner Charaktere, setzt TIGER GIRL hier auf tempogeladene Dramaturgie und stilisierte Kampfszenen, die Erinnerungen an Computerspiele wie „Street Fighter“ wachrütteln. Die dokumentarische Bildästhetik behält Lass hier größtenteils bei, arbeitet auch wieder viel mit Laiendarstellern (absolut fantastisch hier Orce Feldschau, auch im wirklichen Leben Ausbilder im Sicherheitsbereich) und improvisierten Dialogen, wobei die hohe Schnittfrequenz, der elektropoppige Soundtrack und die kreativen Kameraeinstellungen dem Film eine gewisse Comic-Ästhetik verleihen, die viel Freude bereitet und gerne noch hätte ein wenig mehr forciert werden können. Denn leider wird der Film von seinem eigenen Realismus eingeholt: Was anfangs getragen von witzigen Dialogen und unterhaltsamer Situationskomik als großer Spaß beginnt – zwei toughe Mädels gegen die Mansplainer und aufdringlichen Arschlöcher dieser Welt – entwickelt sich zu einem relativ sinnlosen Gewaltexzess mit offenem Ausgang, bei dem der Humor irgendwie auch auf der Strecke bleibt…
TIGER GIRL ist ein Film wie die Faust in der Fresse, er ist das Ventil für die versteckten Aggressionen im großstädtischen Alltag und führt konsequent genau dorthin, wo es richtig weh tut. – Eigentlich sogar noch darüber hinaus.
Denn ob Lass hier in seinem Wunsch zur Provokation und radikalen Infragestellung unseres alltäglichen Wertesystems, angesichts der im Netz kursierenden Bilder einer zum Teil erschreckend offen ausgelebten Rohheit und Gewaltbereitschaft an Berlins U-Bahnhöfen hier nicht ein wenig zu gewaltverherrlichend und zu wenig kritisch unterwegs ist, bliebe noch dringend zu diskutieren.
Letztendlich wirkt TIGER GIRL ein wenig wie der Versuch eines Gymnasiasten aus gutem Hause auf ironische Weise richtig harten Gangsta-Rap zu machen…
Dann doch lieber Marteria…