Dysfunktionalitäten in Potsdam

Eindrücke von zweieinhalb Tagen Medienwissenschaft

Vom 05.10. bis 08.10.2011 fand in Potsdam die Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) an Standorten der Univer­si­tät Pots­dam und der FH Potsdam statt. Die GfM wurde 1985 gegründet und ist eine Plattform für Information, Diskussion und Austausch innerhalb der Disziplin. Die deutsche Medienwissenschaft hat ein Gesicht, das wird hier klar.

Unterschiedlichste Vertreter des Fachgebiets sind angereist, um den eigenen Dunst­kreis zu verlassen, sich mit wissenschaftlich Verwandten zu treffen, Erfahrungen auszutauschen und sich zu vergewissern, dass sie nicht allein sind auf der Welt. Das ist wichtig für jedes Fachgebiet, aber besonders für ein so heterogenes. Es geht um intermedienwissenschaftliche Verständigung, dieses Jahr im Zeichen der ‚Dysfunktionalität‘.

Es ist Donnerstag früh, 9 Uhr, Potsdam Griebnitzsee. Zweiter Tag der GfM-Tagung 2011. Der eine oder andere wirkt noch etwas übernächtigt vom Auftakt am Abend vorher, bei dem es wenig Programm und dafür mehr Zeit für Wein und schickes Mensa Essen gab: Wraps, Asiapfanne und mariniertes Huhn. Die Keynote des ersten Abends hielt Rick Altman im angelsächsischen Stil. Er würzte seinen Vortrag „New Wine in Old Wineskins: The Many Functions of Media Dysfunctionality“ mit Witzen und performativen Einsätzen und trug Teile mit französischem Akzent vor. Alles im Dienst der Verständlichkeit und das Ganze ist am Ende wirklich sehr kurzweilig, ein Gesamtkunstwerk, sicher schon öfter gehalten, wenn auch mit gleichbleibendem Elan. Nur bei Fragen aus dem Publikum reagiert er unflexibel, verwechselt gar“ D3D“ mit „DVD“, aber das ist ok, er hat einen Stein im Brett – und einen Cowboyhut.

Falls es einen Dresscode gegeben haben sollte, wurde er heute abgelegt. Nadelstreifen stehen neben Grobstrick Norweger Pullis und Hornbrillenträgern (und Cowboyhüten). Man plaudert, trinkt noch schnell einen Kaffee und nutzt die Zeit für ein letztes Meet-and-greet. Denn man kennt sich hier und wen man nicht kennt, dem stellt man sich vor. Aber natürlich geht es auch um fachliche Fragen. Um Dysfunktionalität als produktive Kraft, als kreatives Element, das sich dem Funktionalen widersetzt. Eine weit gefasste thematische Klammer also, und so unterschiedlich wie die Zugänge sind auch die Vorträge. Titel wie „Flora Helvetica. Unkraut im Alpenparadies“ oder „Der Darm als virtuelle Erlebniswelt“ versprechen Kurzweiligkeit. Fototheoretische Vorträge zur Ästhetik des Schnappschusses verdeutlichen die Leistung des Zufalls als gestalterisches Prinzip, filmwissenschaftliche Ansätze beschäftigen sich mit non­linearen Erzählweisen und dysfunktionalen Narrativen und andere begeben sich auf das Terrain philosophischer Grundlagenforschung, wie Martin Doll in seinem Vortrag „Das Defizit als politische Bedingung der Kommunikation“.

Gerüchte gehen um, jeder eingereichte Vortrag sei angenommen worden. Das würde die Massen an Panels erklären, nur was das über die Qualität aussagt, bleibt vorerst ungewiss. Aber in der Tat sind die Vorträge heterogen, um nicht zu sagen, qualitativ unterschiedlich, und dies in allen Bereichen. Nachwuchswissenschaftler stehen neben gestandenen Professoren. Die Sorge, der eigene Vortrag sei womöglich unterkomplex, sowie höfliche und repetitive Entschuldigungen dafür, dass man dasselbe Zitat verwendet hat wie der Vorredner, sind ebenso präsent, wie obligatorische Vorschläge ob man nicht besser Deleuze statt Foucault als theoretischen Überbau gewählt hätte.
Namedropping steht ebenfalls hoch oben auf der Liste, als Abgrenzungsmöglichkeit, Referenz, Verortung und um den Erklärungsbedarf von vornherein einzuschränken. Man hätte sich gewünscht manchmal etwas mehr eigene Gedankenbildung und weniger Heidegger-Zitate zu hören, aber OK. Manch einer nutzt die Zusammenkunft um gleich mal ein bisschen Werbung für das eigene Forschungsanliegen, Publikationen oder das Gründen einer Arbeitsgruppe zu machen. Kontakte sind alles, auch in der Medienwissenschaft.

Der Vortragsstil ist ebenfalls von unterschiedlicher Qualität. Als häufigste Taktik kristallisiert sich heraus, eine in Schrift-Deutsch verfasste Version der Idee, inklusive komplizierter Schachtelsätze, in denen das Verb erst nach mehreren Nebensatz-Einschüben am Ende steht, vorzulesen. Schade denkt man sich, denn man hätte die Ausführungen wirklich gerne verfolgt und verstanden, aber es wird einem nicht leicht gemacht. Auch ein kurzer Vorbereitungstext mit Aufzählung der Thesen, oder einem kleinen Tipp, wo es hingehen soll mit dem Vortrag, fehlen des Öfteren. Für die Frage der intermedienwissenschaftlichen Verständigung ist das nicht OK.

Es gab aber auch viele Lichtblicke, die Panels sind teilweise sehr gut programmiert, greifen ineinander. Die anknüpfenden Publikumsdiskussionen sind überwiegend spannend und ergiebig und können sogar den ein oder anderen etwas ausgefransten Vortrag wieder auf Linie bringen. Auch Überraschungen bleiben nicht aus: Künstlerische Arbeiten, die Teil der Thesenbildung der Vortragenden waren, können durch die zufällig anwesende Künstlerin ganz zeitnah besprochen werden. Solche Begegnungen garantieren die Verbindung zur Basis und überführen den wissenschaftliche Diskurs gleich mal auf eine Ebene, auf der die Argumentation ins Stocken gerät. Schön dysfunktional mit garantiertem Mehrwert für die eigene Erfahrung.

Manchmal bleibt die thematische Klammer zwar etwas auf der Strecke und der Dysfunktionalitätszusammenhang kann nur nach mehrmaligen Nachfragen identifiziert und im Dickicht der Thesenbildung entdeckt werden, auch hätte das Thema vielleicht mehr Sprengstoff gehabt und etwas mutiger besprochen werden können, aber das ist OK. Die Idee ist klar geworden.
Insgesamt hat die Tagung ihren Auftrag erfüllt. Kontakte wurden geknüpft, Austausch hat stattgefunden, Arbeitsgruppen wurden gegründet, Bücher verkauft. Und aller theoretischen Dysfunktionalität zum Trotz, blieben Pannen und Missgeschicke aus, das wäre, so Christine Hanke in ihrer Eröffnungsrede, aber ohnehin kein Entschuldigungs­grund gewesen. Erschöpft fährt das Gesicht der deutschen Medienwissenschaft nach Hause, mit Dysfunktionalitätswitzen im Ohr, leichten Augenringen aber Optimismus im Blick. Und die nächste Tagung steht schon an.