Würden Kafka und Hitchcock beschließen, zusammen einen Film zu machen, würde wohl genau das dabei herauskommen: ein schwindelerregender Psychothriller mit tiefenpsychologisch-surrealen Elementen. Mit ENEMY begibt sich der kanadische Regisseur Denis Villeneuve in das undurchsichtige Netz menschlicher Identitäten. Er selbst bezeichnete den Film in einem Interview scherzhaft als Dokumentation von Jake Gyllenhaals Unterbewusstsein und tatsächlich wäre das, was man hier zu sehen bekommt, sicher ein Fest für den Psychoanalytiker.
Jake Gyllenhaal spielt hier eine Doppelrolle als der vom Leben überforderte Hochschullehrer Adam und der nur mäßig erfolgreiche Schauspieler Anthony. Der Film beginnt mit einer mysteriösen Szene, die zugleich auch den Bogen zum Ende des Films zieht: Jake Gyllenhaal, im schwarzen im Anzug geht einen Korridor entlang, betritt einen Raum, der offensichtlich ein pivilegierter Herrenclub ist. Die Kamera folgt den schwitzenden Männergesichtern, deren Blicke auf eine Bühne in der Mitte gerichtet sind, wo eine unbekleidete Frau sich anschickt, eine Vogelspinne mit ihren High-Heels zu zertreten. Dazu kommt es jedoch nicht. Im Anschluss sehen wir denselben Mann, nur etwas müder, blasser und allgemein schlechter gekleidet: Er steht in einem Hörsaal und doziert über die Kontrollmechanismen und Merkmale totalitärer Regime in der Geschichte. Abends kehrt er zurück in sein fast leeres Apartment: „How can you live like that?“ ist die Mailbox-Nachricht seiner Mutter (Isabella Rosellini). Seine Affäre (Melanie Laurent) kommt zu Besuch, sie essen und haben Sex. Am nächsten Morgen beginnt der Tag wieder von vorne. Immer wieder sehen wir in schnellen Schnitten eine Abfolge dieses einen Tages, den Hörsaal, das beinahe unbewohnt aussehende Apartment, den Sex. Jeder Tag im Leben dieses Mannes ist gleich. Seine Routine wird aufgebrochen in jener Nacht, in der er sich selbst in einem Film sieht.
Oder eben jemanden, der ihm nicht nur zum Verwechseln ähnlich sieht, sondern der genauso aussieht wie er. Adam begibt sich auf die Suche nach dem Doppelgänger, der offensichtlich auch dieselbe Stimme hat – dessen Frau (Sarah Gaden), hält ihn am Telefon für ihren eigenen Mann Anthony. Ungläubig, genervt aber dennoch neugierig geworden, geht Anthony auf das Angebot Adams, sich zu treffen ein. In einem abgelegenen Stundenhotel stellen die beiden Männer fest: Sie sehen nicht nur gleich aus, sie klingen nicht nur gleich, sie sind identisch bis hin zur Narbe unter der Brust. Verwirrt und aufgebracht verlässt Adam den Ort. Anthony, dessen junge Frau ein Kind erwartet und mit der die Dinge gerade eher angespannt sind, beginnt Adam um seine Ungebundenheit und seine hübsche Freundin, deren Ähnlichkeit mit seiner eigenen Frau nicht zu übersehen ist, zu beneiden und drängt sich mit aller Gewalt in dessen Leben – mit tödlichen Folgen…
In dämmerig traumwandlerisch-psychotischen Bildern konstruiert Denis Villeneuve hier das Netz, in dem die beiden Hauptfiguren sich immer weiter verstricken. Je näher die Männer sich kommen, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen den beiden, zwischen Traum und Realität und häufen sich die kleinen Zeichen und nicht so nebensächlichen Nebensächlichkeiten, die sie beinahe ununterscheidbar werden lassen. Der Film basiert auf dem experimentellen Roman „Doppelgänger“ des portugiesischen Schriftstellers José Saramago. Der Roman lotet nicht nur die Grenzen menschlicher Identität aus, sondern befragt auch die Rollen von Autor und Leser und inwiefern sich diese gegenseitig mit-konstruieren beziehungsweise de-konstruieren. „Ich ist ein anderer“, schrieb der französische Dichter Rimbaud über das lyrische Ich und auch in diesem Film stellt sich schnell die Frage, wo die Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen sind beziehungsweise wie viel von dem Anderen im Ich mit enthalten ist. Adam und Anthony wirken in ihrer janusköpfigen Gegensätzlichkeit wie zwei Teile derselben Persönlichkeit: die Apartments der beiden unterscheiden sich lediglich in ihrer Einrichtung, die Hochhaussiedlungen, in denen sie wohnen, sehen quasi gleich großstädtisch und unpersönlich aus, das Leben Anthonys erscheint wie das Leben Adams nur in einer geordneteren, polierteren, saubereren und frischeren Version. Deren beiden Frauen, die einem Hitchcock-Cast entsprungen sein könnten, drängen Erinnerungen an VERTIGO geradezu auf.
Die Spinne aus der Anfangssequenz taucht im Laufe des Films immer wieder auf: einmal in einem Alptraum Adams, als Kopf einer unbekleideten Frau und einmal riesenhaft über der Stadt schwebend. In diesem surrealen Bild scheinen die Ängste der Moderne vor den Neurosen und unterdrückten Sehnsüchten des sich im Netz der Metropole verlierenden Großstädters metaphorisch durch. Die Spinne scheint für eine ins Unterbewusstsein verbannte und unterdrückte Sexualität Adams stehen, der seine Begierden offensichtlich nur passiv und in jenen geheimen Männerabenden auszuleben scheint.
Von weitem hören wir Kafkas Käfer kratzen…
Man könnte dem Drehbuch eventuell vorwerfen, die Handlung sei ein wenig zu konstruiert, findet Adam Anthonys Kontaktdaten doch ein bisschen zu schnell und gestalten sich die Übergänge in das Leben des jeweils Anderen auch einen Tick zu einfach. Geht man jedoch davon aus, dass es sich dabei nicht um zwei verschiedene, sondern um zwei Persönlichkeitsaspekte ein und derselben Person handelt, kann dies auch als beabsichtigte dramaturgische Entscheidung angesehen werden. Der gelbe Farbfilter, der die Bilder in einem leicht diesig-dämmerigen Licht erscheinen lässt, konstruiert eine alptraumhaft-klaustrophische Atmosphäre und ähnlich wie bei David Lynchs Mullholland Drive erwartet man, dass jeden Augenblick etwas ganz Schlimmes passieren wird und ein Mann im Affenkostüm hinter den Mülltonnen hervor springt oder so. Und auch wenn die Musik ein wenig zu dick aufträgt – zeitweise fühlt man sich an Kubricks 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM erinnert, was dann doch ein wenig irritierend ist – gelingt es Villeneuve dennoch, die Spannung aufrecht zu erhalten und mit einem surrealen Ende für einen gelungenen Überraschungseffekt zu sorgen.
Eine tiefenpsychologische Analyse des Films wäre sicher spannend, Freud und Lacan lassen grüßen, das würde den Rahmen hier jedoch sprengen. Bleibt also nur zu sagen, dass Denis Villeneuve mit ENEMY einen intelligent konstruierten Psychothriller inklusive surrealer Elemente und unterdrückter sexueller Begierden präsentiert.
Na, wenn das mal nicht vielversprechend klingt.
Der Film lief während der Fantasy Filmfest Nights in Berlin und kommt am 22. Mai 2014 in die deutschen Kinos.