In seinem 44. Film “Blue Jasmine” lässt Altmeister Woody Allen seine Heldin wie in einer antiken Tragödie vor die Hunde gehen. Die neurotische New Yorker Upper-Class Hausfrau Jasmine (Cate Blanchett) versucht nach der Trennung von ihrem betrügerischen und in marode Invenstmentgeschäfte verwickelten Ehemann Hal (Alec Baldwin), bei Adoptiv-Schwester Ginger (Sally Hawkins) in San Francisco wieder auf die klapprigen Beine zu kommen.
Bereits in der ersten Szene, in der Jasmine die Sitznachbarin im Flugzeug nach San Francisco mit ihrer Lebensgeschichte überschwemmt, wird klar, wie verloren diese Frau tatsächlich ist. In Rückblenden erfahren wir Stück für Stück von ihrem Absturz in die psychische und finanzielle Krise. Als Pillen schluckendes und Selbstgespräche führendes Wrack ist Jasmine ein gelungenes Gegenstück zur lebensfreudigen und eher pragmatischen Ginger. Diese arbeitet im Supermarkt und lebt mit zwei dicklichen Söhnen und ihrem grobschlächtigen Lover Chilli (Bobby Cannavale) in einem heimeligen und für Jasmine absolut unhaltbaren Appartement in San Franciscos Arbeitergegend. Für ihr schlichtes Leben ist – wie wir bald erfahren werden – auch Jasmine mit verantwortlich. Von Gingers Partner Chilli hält die Schwester genauso wenig wie von ihrem Ex-Mann Augie (Andrew Dice Clay). In ihren Augen könnte Ginger durch den richtigen Mann ein besseres Leben führen.
Die weltfremde Jasmine – die eigentlich Jeanette heißt, diesen Namen aber wegen seines trivialen Klangs abgelegt hat – kann nichts, außer sich in höheren Kreisen zu bewegen. Nun muss sich dazu erniedrigen, als Rezeptionistin in der Zahnarztpraxis von Dr. Flicker (Michael Stuhlbarg) auszuhelfen, der ihr ungewollt Avancen macht. Nebenher belegt sie einen Computerkurs, um – so ist der ambitionierte, wenn auch skurrile Plan – schließlich einen Online-Kurs für “Interior-Design” zu besuchen. Doch das alles scheint sich zu erübrigen, als Jasmine den wohlhabenden Diplomaten Dwight (Peter Sarsgaard) kennenlernt und bezaubert. Vielleicht wird nun alles gut und sie schafft es, wieder einen Fuß ins gewohnte Milieu zu bekommen.
Auch Schwester Ginger bleibt von Jasmines Einfluss nicht unberührt. Sie könnte ja doch eine bessere Partie als Chilli finden. Auf einer Party lernt sie den Sound-Ingenieur Al kennen und macht sich Hoffnungen auf ein Leben, in dem sie nicht an der Supermarktkasse stehen muss. Doch schnell wird klar, dass diese Wunschprojektion, die zu Jasmines geistigem Aufenthaltsort geworden ist, keine Option für Ginger ist.
Die beiden Schwestern trennen zwei bis vier Welten. Doch Allen gelingt es – und das ist besonders der Meisterschaft seines Ensembles zu verdanken – dass dieser Aufprall sich nicht in Klischéhaftigkeiten verliert, sondern die unterschiedlichen Charaktere fassbarer macht. Cate Blanchett verleiht der Figur der Jasmine nicht nur eine saftige Neurose, sondern auch die nötige Tiefe und Vielschichtigkeit. Sally Hawkins sorgt mit ihrer unglaublichen Präsenz für Bodenhaftung. Weitere Spannung bekommt der Film durch die gekonnte Montage von Szenen aus der Gegenwart und Flashbacks aus der New Yorker Vergangenheit.
Es gibt Stimmen, die behaupten, dass “Blue Jasmine” von Tennessee Williams “A Streetcar Named Desire” oder dem Madoff-Skandal inspiriert sei. Doch eigentlich ist es doch viel interessanter, Woody mit Woody zu vergleichen.
Wer sein Œuvre kennt, weiß, dass der Regisseur seinem Hang zum Drama zwar oft aber wenig erfolgreich (“September“, 1987) nachgegangen ist. “Blue Jasmine” ist dem geschmähten “Interiors” (1978) inhaltlich nicht ganz unähnlich. Schließlich geht es auch hier um eine Frau, deren Leben nach der Trennung vom Ehemann eine tragische Wendung nimmt.
Ebenso geläufig ist Allens Spiel mit der Identität (“Zelig“, 1983), die Flucht in andere Welten, die Fans aus “Midnight in Paris” (2011) kennen oder das Einnisten in andere Lebensrealitäten (“Melinda & Melinda“, 2004). Am ehesten ergibt sich aber eine Parallele zu “Alice” (1990), einer Komödie in der Mia Farrow, die die namensgebende reiche Hausfrau Alice verkörpert. Als weniger neurotische Version von Jasmine führt sie das Leben, das Jasmine vor dem großen Zusammenbruch hatte. Aber Alice schafft den Neuanfang.
Im Vergleich zu den Vorgängern schlägt Allens Spätwerk “Blue Jasmine” einen weitaus tragischeren Ton an. Die Absurdität und Komik entsteht vor allem dadurch, dass Jasmine sich eine Blindheit gegenüber allen Unannehmlichkeiten antrainiert hat und dass genau dieses Verhalten sie überhaupt erst in ihre verzwickte Situation bringt. Cate Blanchett bei ihrem grandiosen Untergang zuzusehen ist auf seltsame Weise schmerzhaft und faszinierend.
Vielleicht will uns Woody damit warnen: Macht die Augen auf, bevor es zu spät ist.
Dieser Artikel ist auch auf Berliner-Filmfestivals erschienen.