Der epische Roman unserer Tage, das ist die amerikanische Erzähl-Serie. Aufwändig produziert, kostümiert und geplottet. Mit weitverzweigten Verwandtschaftsverhältnissen, sozialen Verästelungen und einer Unzahl an Charakteren, die alle eingeführt werden müssen und deren Entwicklung das Interesse an der Geschichte bündelt. Eine solche Geschichte erzählt auch die HBO-Serie BOARDWALK EMPIRE (2010 – 2012) prodziert von Terence Winter, Martin Scorsese, Mark Wahlberg, Tim Van Patten und Stephen Levinson. In der ersten Folge nimmt sie uns mit zum Vorabend der Prohibition in Atlantic City, in eine Welt gezeichnet von schwindelerregenden Schluchten zwischen Arm und Reich, eine Gesellschaft kurz nach dem ersten Weltkrieg, kurz vor dem Frauenwahlrecht, in Sichtweite des Börsencrashs und der großen Depression. Eine Welt die lange zurück liegt, uns aber doch seltsam vertraut erscheint und in die wir uns trotzdem schnell einfinden.
Daran ist die Erzählstrategie der Serie schuld. Sie tut alles um uns diese Welt ganz plastisch vor Augen zu führen. Die Kostüme sitzen, die Hälse der Männer sind in steife Kragen eingeklemmt, der Kopf unter Zylinder und andere Hüten gesteckt, die Anzüge voluminös und aufwändig, aus feinsten Stoffen, besonders beliebt: Nadelstreifen. Frauen tragen ebenfalls Hut und langes Haar in Hochsteckfrisuren (bis zur Einführung des Bobs dauert es noch ein paar Monate) und wenn sie nackt sind, Schamhaartoupets. Hüte, Schuhe, Anzüge, Werbung, Architektur und Inneneinrichtung sind detailgetreu nachempfunden, Erfindungen aus der Zeit werden beiläufig eingeführt (Staubsauger, Brutkasten) und auf historische Ereignisse und Personen Bezug genommen. Al Capone, ist noch grün hinter den Ohren und Lucky Luciano am Beginn seiner Karriere. Die Prohibition ist dabei der Aufhänger um in eine bestimmte Zeit einzutauchen und das Spiel der Macht zur Abwechslung mal woanders zu verorten, als in der Welt des Casinos, des Drogenkriegs oder italo-amerikanischen Mafiafamilie. Diese Settings sind zwar auch Teil der Welt von BOARDWALK EMPIRE, sie sind aber eher einzelne Handlungs-Spielplätze und man steht was deren Organisation und Ausdifferenzierung betrifft noch ganz am Anfang. Wir kehren quasi zurück an den Ursprung aller kriminellen Gruppierungen in den USA.
Das Epizentrum des Beziehungs- und Verflechtungswahnsinns ist Enoch „Nucky“ Thompson, alias Steve Buscemi. Der Schatzmeister von Atlantic City, hält die Fäden in der Hand, kontrolliert die Polizei und das Geschäft mit dem illegalen Alkohol, spricht auf Anti-Alkohol-Versammlungen um danach in zweifelhafte Etablissements einzukehren, den Flachmann in der Hand. Er entscheidet buchstäblich über Leben und Tod und hat Spaß an der Macht und die Finger überall drin. Und natürlich hat er dabei auch eine menschliche Seite. Sein Privatleben ist Ausdruck seines ambivalenten Charakters, denn hier, im Privaten mangelt es ihm an Durchsetzungskraft und es lässt insgesamt zu wünschen übrig: die Frau gestorben, die Geliebte ein Ärgernis, der Bruder eifersüchtig, der Neffe störrisch und seine Entourage verpeilt. Weil Privates und Geschäftliches aber untrennbar miteinander verknüpft sind, führt das auch zu beruflichen Konsequenzen.
Nucky Thompson ein halber Gangster, schillernd, mit vielen Facetten. Ein Mann den man ob seines eher mickrigen Äußeren gerne unterschätzt, mit einem Herz für die Menschen die ihm nahe stehen und dem Gefühl einen Rest Anstand zu besitzen, also zumindest nicht selbst jemanden umgebracht zu haben. Klug, behände, leutselig, sogar selbstironisch und doch unnachgiebig. Jemand also, mit dem man sich durchaus identifizieren kann.
Das Ziel eines jeden Piloten ist es, den Zuschauer zu überzeugen, dass es wert ist dran zu bleiben, sich auch die nächsten Folgen zu geben. Diese Aufgabe ist besonders schwer, wenn die Serie mehrere Handlungsstränge und viele handlungswichtige Charaktere begleitet. Die Einführung der Personen und die Verortung derselben muss idiotensicher sein. BOARDWALK EMPIRE setzt deshalb schon im Vorspann auf ein totales Einschwören auf den Hauptcharakter, führt das Überthema der Serie ein – die Prohibition, verortet den Plot in Atlantic City und stellt das janusköpfige, schillernde der Hauptfigur, wie auch der gesamten Gesellschaft aus, in die sie einführt: Ein Meer, gespeist aus Alkohol schlägt in sanften Wellen an den Strand von Atlantic City. Am Anfang ist alles noch eitel Sonnenschein, doch schon bald zieht ein Sturm auf, (angekündigt durch einen Tonwechsel in der Titelmusik) der die Wellen höher schlagen und Flaschen am Pier zerschellen lässt. Knöcheltief darin und Projektionsfläche von Blitzen, ein Mann im Nadelstreifenanzug und Hut, goldenem Zigarettenetui und Augen, deren Ausdruck zwischen klug und fast schon diabolisch changiert. Dieser Mann ist Enoch „Nucky“ Thompson. Die Wellen überspülen seine Füße, um sie dann wieder freizugeben, trocken und tadellos, als wäre nichts geschehen. Das Wasser (oder der Alkohol?) perlt ab und verwischt die Spuren des Drecks, den Nucky am Stecken hat.
Was im Vorspann begonnen wird, wird in der ersten Folge akribisch weitererzählt. Denn hier ist bereits alles drin. Die meisten Charaktere die in der ersten Staffel zu einiger Wichtigkeit gelangen, werden direkt und ohne Umschweife eingeführt und in Beziehung zueinander gesetzt, deren Familienverhältnisse geklärt und Grundsteine für die weiteren Entwicklungen gelegt. Sei es die Beziehung von Nucky zu Margaret (deren Mann im Verlauf der ersten Folge beiseite geschafft wird), sein Verhältnis zu seinem Bruder Eli oder die Motivation für Jimmy´s Alleingang (Kriegstrauma), der wiederum Veränderungen im Gangstergefüge hervorruft (Tod von John Torrio), oder das Einführen von Nuckys Gegenspieler dem FBI Agent Nelson van Alden, ein gestrenger, von seinen Emotionen vollkommen abgekapselter Puritaner, der für seinen Beruf lebt und an die Prohibition so fest glaubt, wie an seine Taschenbibel.
Dabei wird nichts dem Zufall überlassen. Perfekt choreografierte Überblickssequenzen, Schnitte die Verbindungen herstellen zwischen Menschen und Orten, Straßenschilder als geografische Referenzpunkte, Rückblenden die über obligatorische Schrifteinblendungen sofort als solche entlarvt werden und eine stetige Benennung der handlungstragenden Charaktere sorgen für Orientierung. Vor allem Letzteres ist von Bedeutung, denn man kann sich nicht darauf verlassen, dass jeder Zuschauer sich alle Gesichter merken kann. Der epische Roman bedient sich zur Erleichterung des Einführungsprozesses normalerweise eines Stammbaums, der die Verflechtungen graphisch darstellt, eine Charakterlegende, die es erlaubt bei etwaigen Unsicherheiten noch mal nachzublättern. Das geht auf Serienebene natürlich nicht. Was macht man also wenn man nicht zurückblättern oder anhalten kann? Man bemüht sich einiger Tricks.
Nicht nur Nucky Thomson wird gleich in den ersten 15 Minuten mehrmals vorgestellt und direkt in seiner Welt verortet, auch seine Geschäftsfreunde in Atlantic City und deren Hackordnung sind in diesen ersten 15 Minuten eingeführt. Besonders schön gelöst wird die Vorstellung der ‚Mafiabosse‘, die sich in Atlantic City konspirativ treffen und dabei von zwei FBI Agents beobachtet werden. Der Jüngere Agent hat Verständnisprobleme und bringt Nucky Thompson und Lucky Luciano durcheinander, glaubt der Consierge sei ein gewisser Sierge, so dass sein Boss ihm die richtigen Namen immer wieder vorsagen muss. Am Ende hat sie dann schließlich auch der langsamste Zuschauer verstanden. Benennung, Verortung, Orientierung.
Der Pilot von BOARDWALK EMPIRE ist ein Beispiel für eine optimale Vorbereitung, auf das was da noch kommt. Das Risiko das große Komplexität birgt, und gleichzeitig aber auch dessen Reiz ausmacht, wird gebannt, indem wirklich Nichts dem Zufall überlassen wird. Die perfekt erzählte Story wird durch Schauspieler ergänzt, die genau wissen was sie tun und ihr Metier so gut beherrschen, dass die Performance fast ein bisschen zu gut ist.
Das Gesamtkunstwerk aus aufwändig erzählter Narrative, technisch perfekter Umsetzung, bester Ausstattung und Kostümierung wirkt am Ende doch sehr glatt. Kleine Überraschungsmomente wie die Einführung von Al Capone zu Beginn seiner Karriere, oder das Wundern über die so frühe Erfindung des Inkubators sind rar und können kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich die Macher des Piloten nur allzu zu sehr darüber bewusst waren, wie viel dessen Produktion gekostet hat und sich bei den Mafiaplot-Veteranen bereits eine gute Portion an Routine eingeschlichen hat.