Amerika wurde in den Straßen geboren, so beschreibt es Martin Scorsese am Ende seines Films GANGS OF NEW YORK: es zeigt einen Friedhof, die Grabsteine der Verstorbenen, der Opfer dieser Straßenkämpfe, der Gewalt, die durch die Straßen New Yorks gezogen ist. Amerika scheint wirklich aus der Gewalt geboren zu sein. Schon die Unabhängigkeit des Landes konnte nur mit einem Krieg errungen werden. Selbst wenn die Anzahl der Kriege im eigenen Land – im Gegensatz zu den europäischen Nachbarn – noch „überschaubar“ ist, scheinen die Kriege, die Gewalt selbst im Land, im Herzen Amerikas immer präsent zu sein. Besonders die Gewalt der Straße, ist für Scorsese ein wiederkehrender Schauplatz. So streift auch der Held Travis Bickle aus TAXI DRIVER auf seinen semi-legalen Feldzügen gegen das Böse, als einsamer Ritter durch die Straßen von Big Apple, der zumindest aus filmischer Sicht „amerikanischsten“ Stadt. Die Straße ist nicht nur Schauplatz, sondern scheinbar die Geburtsstätte der Kriminalität und somit der Personen, denen Scorsese – und auch viele andere Filme der amerikanischen Filmgeschichte – so viel Beachtung in seinen Filmen schenkt. Diese Figuren sind jedoch nicht durch und durch böse und im Kern scheinen sie gute Menschen. Die Umstände, der Ort, haben sie zu dem gemacht, was sie heute sind. Genauso erscheint die Hauptfigur Enoch „Nucky“ Thompson, aus der von Scorsese und Mark Wahlberg für HBO produzierten US-Serie BOARDWALK EMPIRE.
Gleich zu Beginn der Serie wird klar, die wahre Macht in der Glitzerwelt von Atlantic City hat ihr Schatzmeister Nucky Thompson (Steve Buscemi). Schon am Vorabend des Inkrafttretens der Prohibition, während die Bewohner der Stadt symbolisch den Alkohol zu Grabe tragen und manch einer die letzten Flaschen kauft, steht fest, dass die Stadt nicht wirklich trocken bleiben wird. Nucky hat die Versorgung der Stadt schon gesichert. Überhaupt läuft in Atlantic City nichts ohne Nuckys Einfluss: Alkoholschmuggel, Glücksspiel, Prostitution, Korruption und Politik – und trotzdem, die Stadt liebt ihn dafür.
Nucky entpuppt sich als das menschliche Abbild der Stadt, die er regiert. Eine Stadt mit zwei Gesichtern. Eine Stadt auf deren Außenfassaden und Dächern die großen Werbetafeln und Vorboten einer verschwenderischen Konsumgesellschaft thronen, in denen die Schaufenster auf dem Boardwalk die neuesten Produkte präsentieren und deren nächtliche Glitzerwelt die Menschen mit Verführung und Versprechen blenden. Hinter diesen Fassaden, befindet sich jedoch auch eine harte Welt, in der Erwartungen enttäuscht werden, in der sich die Abgründe auftun und die Menschen ihr wahres Gesicht zeigen.
So „vielfältig“ wie seine Stadt, ist auch Nucky selbst: auf der einen Seite der gute Politiker, der am Vorabend der Prohibition den Frauen der Women’s Temperance League Unterstützung bei ihrem Kampf gegen den Alkohol zusichert und auf der anderen Seite der Mann, der wiederum die Versorgung der Stadt mit illegalem Alkohol zum Laufen gebracht hat.
Doch es wäre falsch in ihm nur den falschen Politiker zu sehen. Obwohl sich die Zeiten im Verlauf der Serie auch für Nucky ändern und sie ihn dann auch selbst verändern werden, so ist er im Kern nicht wie die anderen Gangsterbosse aus New York (z.B. Arnold Rothstein gespielt von Michael Stuhlbarg) oder Chicago (z.B. John „Johnny“ Torrio gespielt von Greg Antonacci), mit denen er Geschäfte macht. Nucky ist zuweilen spendabel, er gibt denen, die Hilfe brauchen und auch dafür lieben ihn die Menschen der Stadt. So kümmert er sich nicht nur um die Probleme seiner zuweilen flüchtigen Geschäftsbekanntschaften, sondern z.B. auch um James „Jimmy“ Darmody (Michael Pitt), seit dieser ein kleiner Junge war. Es ist klar, diese Aktionen sind nicht ohne Hintergedanken, denn eines Tages werden diese Personen ihm helfen können, wie eben Jimmy Darmody, der nun als Handlanger für Nucky arbeitet. Jedoch ist Enoch „Nucky“ Thompson mehr als das und selbst seine zukünftige Frau Margaret Schroeder (Kelly MacDonald), stellt sich immer wieder die Frage, wer er eigentlich wirklich ist.
Das Spiel, die Opposition von Spiegelung und Realität, quasi zwischen Wunsch und Wirklichkeit, scheint ein zentraler Punkt bei Nucky zu sein. Umso bezeichnender ist daher eine Szene, in der er vor dem Spiegel eine Rede probt und dabei wieder sein falsches Lächeln aufsetzt. Als ihn sein Assistent Edward „Eddie“ Kessler (Anthony Laciura) unerwartet von hinten anspricht, zuckt Nucky zusammen und fragt ihn, wie lange Eddie schon dort stehen würde, so als ob es ihm peinlich wäre, dieses falsche Lächeln aufzusetzen. [1]
Selbst wenn Nucky nur selten etwas über seine Vergangenheit preisgibt, so scheint sich sein wahres, verletzliches Ich, seine Sehnsüchte vorrangig in seiner Stadt widerzuspiegeln. Es ist gerade der Moment der Spiegelung in den Schaufenstern – dem Inbegriff des von Nucky selbst geschaffenen Konsums – in dieser an Alkohol und Glamour reichen, aber an Menschlichkeit so armen blendenden Glitzerstadt, der seine wirkliche Persönlichkeit zeigt. Die Stadt ist Nucky Thompson. So zeigt Nuckys trauriger Blick durch das Schaufenster einer Frühgeborenenstation – die ein bisschen verloren inmitten der anderen Konsumläden wirkt –, die Erinnerung an seine verstorbene Frau und seinen Sohn.
Der Blick durch das Schaufenster einer Wahrsagerin am Boardwalk, steht wiederum paradigmatisch für die Frage nach der eigenen Zukunft und der Unsicherheit, was noch kommen wird. Eine Frage, die ihn unter all seiner nach außen gezeigten Sicherheit umtreibt. [2]
Die Differenz zwischen Spiegel und Schaufenster ist aber interessant. Während der Spiegel nur einen einseitigen Blick zulässt, denn der Betrachter sieht nur sich selbst wie er sich anschaut, ermöglicht das Schaufenster mehrere Möglichkeiten: der Betrachter sieht sich selbst, kann durch das Glas auf das Objekt seiner Sehnsucht schauen, ist aber zugleich auch Objekte der Betrachtung von der anderen Seite. Der Betrachter selbst mag blind für sein wahres Ich sein, mag sogar davon geblendet sein, denn er sieht nur das, was er sehen will (das Spiegelbild). Doch gerade das Gesehen-werden, entlarvt diesen Blick: im dem der Betrachter angeschaut wird, fällt die Maske und der Betrachter wird sich des Aktes der Selbsttäuschung bewusst. Umso paradigmatischer ist daher der entlarvende Blick der Wahrsagerin auf Nucky, als dieser durch ihr Schaufenster blickt.
Im Gegensatz hierzu, scheint Nucky selbst in einer anderen Szene sein durchaus zwiegespaltenes Image in Frage zu stellen.
Als eines Abends Margaret und Nucky darüber streiten, ob seine Zuneigung zu ihr echt oder nur gespielt ist, konfrontiert er Margaret wütend mit der Tatsache, dass sie sich jedes Mal nach dem Sex mit ihm mit dem Desinfektionsmittel Lysol desinfiziert und zweifelt grundsätzlich ihre Dankbarkeit an. Als der Streit eskaliert, wirft Nucky die Flasche mit dem Desinfektionsmittel gegen den Spiegel, der daraufhin zerbricht. Interessant ist, dass sich der Streit in dieser Szene wiederum die Frage dreht, wer Nucky nun wirklich ist. Im Innersten – so lässt sich vermuten – scheint Nucky die Skepsis, die Margaret ihm entgegen bringt, zu verstehen. Der Wurf mit dem Desinfektionsmittel auf den Spiegel erscheint somit wie ein Akt der Verzweiflung, beispielhaft für die innere Zerrissenheit, wie der versteckte Wille sein schlechtes Ich, das sich im Spiegel der Selbsttäuschung zeigt, zu zerstören; das wahres Ich zu desinfizieren von all den kriminellen Taten, die ihn daran hindern ein normales Leben zu führen und eben das zu erreichen, wonach er sich sehnt. [3]
Im Verlauf der Serie finden sich viele solcher Momente. Nucky ähnelt vielen der Hauptfiguren aus Scorseses Filmuniversum: in gewisser Hinsicht Kriminelle, Outlaws die jedoch nicht von Anfang an so waren. Es waren die Straße, die harten, ungerechten Umstände, die Schicksalsschläge und die Gewalt in ihrer Vergangenheit, die sie zu dem gemacht haben, was sie jetzt sind. Sie sind ein Teil der amerikanischen (Film-) Geschichte und selbst wenn der Zuschauer nicht die Gewalt gutheißen will, so empfindet man Mitgefühl mit diesen Figuren, die in ihrer Situation gefangen sind. Figuren die, wie auch Nucky, immer wieder den Versuch unternehmen etwas an ihrer Situation zu ändern, jedoch nur schwer diesem Käfig entfliehen können. Zurück bleiben innerlich zerrissene Figuren, zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Selbsttäuschung, in einem Land das an Widersprüchen so reich ist.